XXII. Theaterkritik.

[248] Auch meine Mutter schien sich nicht zu wundern, als von einer Wiederaufnahme meiner juristischen Tätigkeit keine Rede mehr war. Zu irgendeiner Szene oder auch nur zu einer Aussprache kam es nicht. Nur wurde ich von Zeit zu Zeit ganz leise – meiner Empfindsamkeit erschien es zu laut – daran gemahnt, nun endlich selbst an Broterwerb zu denken. Gerade die Geschwister, die mir am nächsten standen, unterstützten dieses Drängen, sehr sanft und behutsam, wie ich anerkennen muß. Ich sah die Notwendigkeit wahrscheinlich nicht ein. Ich hatte ein Bändchen Sonette drucken lassen (auf Kosten meiner Brüder), ein Drama von mir war zweimal aufgeführt worden (das Honorar war der freie Theaterbesuch). Was wollte man noch mehr von mir? Sollte ich den guten Angehörigen erklären, daß ein halbes Dutzend faustischer Dichtungen, ein großer Judenroman und dazu unklar ein gewaltiges philosophisches Werk in meinem Kopfe spukten? Daß in den letzten Monaten auch einige Novellen fertig geworden waren, von denen ich nur nicht wußte, daß man sie einer Zeitung oder einem Verleger anbietet? Gedichte, ja, die läßt man drucken; desto besser, wenn sie bezahlt werden. Dramen, ja, die läßt man aufführen; desto besser, wenn sie Tantiemen abwerfen. Ich hatte[248] keine günstigen Erfahrungen gemacht. War denn das so wichtig? Ich aß an meiner Mutter Tisch, ging nicht eben gut gekleidet und hatte auch sonst so gut wie keine Geldbedürfnisse. So oft die Kaffeeschulden beim Oberkellner auf einen Gulden aufgelaufen waren, fand sich irgendwo der Gulden, und ich war wieder sorgenlos. Ich habe wohl keinen Erwerbssinn.

Nur einmal trat das Bewußtsein meiner ökonomischen Lage deutlich an mich heran. Ein Konzert von Rubinstein. Das mußte ich hören und dort hatte ich kein »Gesichtsentree«. Der billigste Platz kostete 50 Neukreuzer. Es war sehr hart, den Empfang dieser Summe mit dem Anhören einer wohlgemeinten Rede über meine Zigeunerei bezahlen zu müssen. Wie schön war das Konzert trotzdem. Aber die Rede ging mir nach.

Da gab es doch eine Möglichkeit, einen großen Haufen Geld zu verdienen mit einer Tätigkeit, die mir damals eine meiner vielen Leidenschaften war. Als Theaterkritiker. Meine Mutter war es zufrieden.

Ich hatte für den »Tagesboten aus Böhmen« ab und zu sogenannte Feuilletons geschrieben. Über Dinge, die mich lebhaft erregt hatten. Der materielle Erfolg war nicht ganz ausgeblieben; bald hatte mir David Kuh fünf Gulden für so eine Arbeit ausgezahlt, bald hatte er mir ein Honorar in dieser Höhe versprochen. Da ich aber um diese Zeit zu rauchen anfing, und die Auszahlung des Honorars nur selten erfolgte, so wurde ich auf diesem Wege kein Kapitalist.

Als Theaterkritiker hätte ich das Prager Landestheater nach den Ideen von Lessing und Otto Ludwig (dessen Shakespeare-Studien ich ja eben mit Begeisterung gelesen hatte) reformiert, hätte das Schlechte vernichtet,[249] dem Guten zum Siege verholfen und hätte überdies gelernt, wie man Meisterdramen schreibt.

Die Phantasie, Theaterkritiker in Prag zu werden, war mir übrigens nicht von selbst gekommen. Seligmann Heller, mein verehrtes Vorbild, der Dichter und Kritiker, mit dem ich auch nach seiner rauhen Besprechung meiner Sonette in guten Beziehungen blieb, war etwa ein Jahr vor dem Tode meines Vaters nach Wien berufen worden, als Feuilletonredakteur der »Deutschen Zeitung«, und hatte mich dem Leiter des einzig gelesenen deutschen Blattes von Prag, der »Bohemia«, zu seinem Nachfolger empfohlen. Ohne daß ich vorher von der Sache wußte. So kam es, daß ich mich mit dem Gedanken an eine solche Tätigkeit befreundete und wochenlang ausschließlich Tag und Nacht die dramaturgischen Werke studierte, die der gelehrte Heller mir zu diesem Zwecke empfohlen hatte. Ich setzte das Studium noch lange fort, auch nachdem ich erfahren hatte, die Theaterkritik an der »Bohemia« wäre meinem Jugendfreund, dem vortrefflichen Alfred Klaar, anvertraut worden. Ich durfte damals die ersten Blicke werfen hinter die Kulissen der Bewerbung um eine so einflußreiche Stelle; ich darf mich wohl rühmen, schon damals gelacht zu haben über die – dem Freunde Klaar unbekannten – Intrigen, die bei der gebrechlichen Einrichtung der Welt immer mitspielen, wo es sich doch um einen ehrlichen Wettkampf handeln sollte. Auf eine Aufforderung Hellers schrieb ich dann für die Deutsche Zeitung in Wien einige Aufsätze, die leider dem Blatte und dem Redakteur fast immer unbequem waren. Es scheint mein Schicksal gewesen zu sein.

Nun war ich wieder um ein Jahr älter geworden und dachte daran, Theaterkritiker beim »Tagesboten aus[250] Böhmen« zu werden. Ich hatte immer noch keine rechte Vorstellung davon, daß der »Tagesbote« sich an Ansehen nicht entfernt mit der »Bohemia« messen konnte, daß es also unklug war, meine Kräfte (die ich wahrlich nicht gering einschätzte) diesem Gebilde des Tageszufalls zu widmen. Richtig war es, daß im »Tagesboten« von Zeit zu Zeit frische und bewegliche, ja selbst übermütige junge Schriftsteller zu Worte kamen, während bei der »Bohemia« ein gediegener, aber etwas zu »gediegener« Ton vorherrschte; doch diese jungen Talente blieben niemals sehr lange beim »Tagesboten«; sie sehnten sich fort und gingen so bald als möglich an eine der großen Wiener Zeitungen. Wichtiger war es mir, trotzdem ich schon damals keine politische Schreiberei trieb, daß David Kuh die Sache der deutschböhmischen Partei mit ehrlichem Draufgängertum verfocht, während die »Bohemia« damals der langsam slawisierenden Regierung ein Zugeständnis nach dem andern machte. Der Glaube an die politische Bedeutung Kuhs ist bei mir noch recht lange unerschüttert geblieben, viele Jahre lang; nicht so viele Tage dauerte mein Glaube an die eigentliche Bedeutung der Wirkung des »Tagesboten«, nachdem ich erst Mitglied seines »Stabes« geworden war.

Das kam aber so. Der »Tagesbote« hatte außer dem Besitzer, der jeden Abend seinen Leitartikel schrieb und einem Manne, der mit Schere und Kleister zwei Drittteile jeder Nummer aus den Wiener Zeitungen zusammenstellte, nur noch einen einzigen Mitarbeiter, Herrn T .... Dieser unersetzliche T ...., auf dessen erstaunlich gering entwickeltes Gehirn und auf dessen mächtig entwickeltes Sitzfleisch die witzigen Durchgangsmitarbeiter des »Tagesboten«, Kohler, Horsky[251] und Klaar sehr lustige Verse gemacht hatten, gedachte nach Wien abzureisen, wo er unglaublicherweise eine Stellung gefunden hatte. Einen kleinen Teil seiner ausgedehnten Tätigkeit sollte ich übernehmen, eben die Theaterkritik. Auch mit Mammon wurde ich gelockt. Fünfzig Gulden monatlich wurden mir versprochen. Und wie etwa ein alter Hofschauspieler – man habe Nachsicht mit meinem Größenwahn – von seinen Anfängen in der Provinz erzählt, so möchte ich jetzt über T .... und dann über die ökonomischen Bedingungen meines ersten Engagements berichten.

T .... war kein Feuilletonist aus der berüchtigten Schule von Heinrich Heine; ach nein, er war dumm und galt für ehrlich. Erst viel später habe ich durch eine zufällige Begegnung in der kleinen Welt erfahren, daß (um den Scherz des Ministers Unger gegen einen größern Feuilletonisten zu wiederholen) es an Unbestechlichkeit grenzte, wie klein die Geschenke waren, die er von Sängern und Schauspielern annahm. Für gewöhnlich wurde seine gute Stimmung auch nur durch Naturalien erhalten, die in die Küche geliefert wurden. War das einmal ein Hasenbraten, so war er stolz auf seinen Einfluß. So erzählte der Theaterklatsch.

Stolz war er gewiß darauf, daß er der Sitzredakteur des Blattes war. Die Anrede »Herr Sitzredakteur« verbat er sich einmal ernstlich; das wäre eine zu intime Privatangelegenheit. Da er die Leitartikel, die dem Staatsanwalte gegenüber allein in Frage kamen, niemals und unter keinen Umständen vor dem Erscheinen las, so war es eigentlich großmütig von ihm, daß er die Verantwortung trug. Ich fürchte, er hat diese Leitartikel auch nach dem Erscheinen niemals gelesen; wahrscheinlich hatte er in seiner Jugend lesen gelernt;[252] dafür aber, daß er jetzt noch irgend etwas las, hat er niemals einen Beweis geliefert. Er hatte offenbar überhaupt keine Augen und keine Ohren. Vielleicht war er ein Dreisinniger.

Besonders stolz war er auf seine Sonntagsplaudereien. Es hieße den ehrwürdigen Begriff der Langeweile verächtlich machen, wollte ich diese schweißgeborenen Schüleraufsätze langweilig nennen. Sie waren anders. Sie waren darin Meisterstücke impressionistischer Kunst, daß die Qual des Verfassers sich dem Leser gedoppelt mitteilte. Und wenn er einmal geistreich wurde, regelmäßig vor jedem Quartalswechsel, dann verhüllte der Genius der deutschen Sprache sein Haupt. Nein, er war kein Dreisinniger, er war ein Analphabet und schrieb Feuilletons.

Nichtmusiker und wohlhabendere Sänger und Sängerinnen, die sich die »Spendierung« eines Hasens leisten konnten und gelobt wurden, behaupteten, er verstünde irgend etwas von der Musik. Einer der ausgezeichneten Künstler, die damals zur altberühmten Prager Oper gehörten, versicherte mich aber: T .... wäre so unmusikalisch gewesen, daß er den Violinschlüssel von einem Retiradenschlüssel nicht hätte unterscheiden können.

Derselbe T .... schrieb auch Theaterkritiken. Es hätte einen Hund jammern können. Natürlich besaß er kein inneres Verhältnis zur Poesie, zum Drama oder zur Schauspielkunst. Er fügte im Schweiße seines Angesichts so lange die verbrauchten Worte aneinander, bis die nötige Anzahl von Zeilen beisammen schien, Dann schüttelte er den Kopf jedesmal wie ein Esel, dem man eine ungebührliche Last aufgeladen hat, schickte das Manuskript in die Druckerei und ging[253] betrübt nach Hause. Übrigens schätzte er seine Theaterkritiken selber nicht so hoch ein wie seine Musikkritiken. Er sprach einmal mit mir darüber. Daß er sprach, war an sich merkwürdig; ich hatte ihn ja für taubstumm gehalten. Er sagte also einmal zu mir in einiger Erregung ... doch diese Geschichte muß ich von vorne anfangen und mit der Beichte eines Dummejungenstreichs beginnen.

T .... saß noch fest auf seinem Redaktionssessel, und ich konnte noch nicht daran denken, der Nachfolger dieses außerordentlichen Mannes zu werden. Ich litt grimmig unter seinen Rezensionen, die unfehlbar die Unwahrheit sagten, nach meinem Ermessen. Meine Begeisterung für alles, was mit dem Theater zu tun hatte, war so groß, daß ich mir oft, wenn ich nachmittags auf die Redaktion des »Tagesboten« kam (um den Büchereinlauf durchzusehen und in Ruhe die Wiener Zeitungen zu lesen), die Rezensionen des gräßlichen T .... im Bürstenabzuge ausbat, um sie avant la lettre genießen zu können. Er pflegte diese Elaborate am Vormittage zu erschwitzen. Eines Tages nun las ich so im Bürstenabzug die Besprechung der gestrigen Aufführung, die mich aus irgendeinem vielleicht allzu menschlichen Grunde ganz besonders angeregt hatte; ich hatte sogar, wie das häufig vorkam, eine eigene Kritik der Vorstellung niedergeschrieben, zu meinem Privatgebrauch, ohne an Druckerschwärze zu denken.

Was ich nun da im Bürstenabzuge las, das schien mir über die Hutschnur zu gehen; ich sprang nach Hause, feilte mein Manuskript sorgfältig durch, steckte es in die Tasche und erschien nach 9 Uhr abends auf der Redaktion mit dem unklaren, jedesfalls unerlaubten Plane, meine Besprechung an Stelle der von T .... in das Blatt[254] einzuschmuggeln. Früher als zu dieser Stunde stellte sich der Verleger David Kuh niemals auf dem Kampfplatze ein.

Wie gewöhnlich etwas müde von wenigen Gläsern Pilsner trat der Chef gegen 10 Uhr ins Zimmer; sehr verstimmt, wie gewöhnlich, wenn er nicht einmal irgendeine kleine Idee für seinen Leitartikel hatte. Ich trug meinen Wunsch vor, meine Rezension anstatt der von T .... gedruckt zu sehen. Kuh fauchte, sein schönes Gesicht sah noch einmal so schön aus, als er mich andonnerte, wie ich es verdient hatte, und einen Schwur leistete, seinem bewährten Mitarbeiter T .... die Treue zu halten. »Ja, T .... ist ein Esel, und Sie möchte ich bei den Rockschößen an mein Blatt bin den; aber das geht nicht!« Er ging mit hastigen Schritten in der kleinen Stube auf und nieder und schrie von Zeit zu Zeit gewissermaßen sich selber an: »Das geht nicht!« Plötzlich: »Und wer bezahlt die Satzkosten für den Wisch von T ....!?« Ich erbot mich in der folgenden Woche gratis eine kleine Novelle für das Blatt zu liefern. »Wie viele Fortsetzungen?« – »Zwei.« – »Mindestens vier!« – Ich glaube, ich versprach eine Novelle von vier Fortsetzungen. »Liebstes Mauthnerl, es geht nicht! Es wäre unerhört!«

Nach einer Weile sank David Kuh in seinen reservierten Stuhl mit der gestickten Sitzgelegenheit und fing zu klagen an; er wäre mehr als müde, er wäre krank, er könnte heute nicht arbeiten. »Liebes Kind, es könnte mein Tod sein, wenn ich in diesem Zustande meinen Leitartikel schreiben wollte. Die Leser sind es nicht gewöhnt, daß ich mit halber Kraft arbeite. Es handelt sich um Größeres als um das dumme Theater und euere Schönheitlerei. Ich muß mein Leben für die[255] Partei erhalten. Ein Wort, ein Mann. Wenn Sie auch noch den heutigen Leitartikel statt meiner schreiben wollen, so soll Ihre Theaterkritik morgen in meinem Blatte erscheinen. Einverstanden? Gute Nacht, meine Herren.«

Der Mann mit der Schere und dem Kleister war Zeuge des ganzen Auftritts gewesen. Er zog seinen Überzieher an, nahm seinen Hut und sagte mehr bewundernd als giftig: »So machen Sie das Blatt auch ganz alleine fertig.«

Ich habe das Blatt in jener Nacht alleine fertiggemacht. Ich habe zunächst so lange mit Schere und Kleister hantiert, bis der Metteur mir sagen ließ, es wäre genug; und dann habe ich einen der beiden Leitartikel geschrieben, die ich überhaupt in meinem Leben verbrochen habe. Diesmal war es reinster, gottsträflicher Übermut. Ich folgte zunächst dem Beispiel meines Chefs. Ich las die Telegramme des Wiener Korrespondenzbureaus, ob ich unter ihnen ein Häkchen fände, daran meinen Artikel anzuhängen. Ich fand das Häkchen. »Der König von Griechenland hat seine Reise ins Ausland angetreten.« Ich hatte keine Ahnung, wer der König von Griechenland war, ich hatte keine Ahnung, warum und wohin er reiste; aber ich schrieb einen schwungvollen Leitartikel über die Reise des Königs von Griechenland. Ich werde wohl etwas Schindluder getrieben haben mit der ahnungslosen Art, in der von Provinzredakteuren politische Artikel angefertigt werden; bei den großen Zeitungen ist das ja ganz anders. Im deutschen Kasino wurde mein Zeug aufmerksam gelesen, und als man dahinter eine Satire gegen einige Reisen des Kaisers Franz Joseph – ich hatte an so etwas gar nicht gedacht – zu wittern anfing,[256] ließ Kuh mit feinem Lächeln die Autorschaft unbestimmt. T .... aber, als er am Tage nach diesem Doppelverbrechen meine Rezension an Stelle der seinigen gefunden hatte, öffnete schwer und langsam seinen Mund und sprach also zu mir: »Meine Theaterrezensionen erreichen nicht ganz die Höhe meiner Opernrezensionen. Auch fallen sie mir schwerer. Hätten Sie vorher ein Wort gesagt, so hätte ich mir die sauere Arbeit sparen und vier Stunden länger schlafen können.«

Wenige Monate nach diesem eigentlich unverzeihlichen Streiche ging also T .... nach Wien, um dort den alten guten Ruf der Prager Journalisten zu gefährden; ich aber trat sein Amt beim »Tagesboten aus Böhmen« an. Über meine Befähigung zu einem solchen Amte werde ich vielleicht später ein möglichst unbefangenes Urteil wagen, wenn ich über meine Theaterkritik zu Berlin, in größern Verhältnissen, zu berichten haben werde. Für jetzt nur so viel, daß ich die paar Leute, die sich um diese Sache kümmerten, gewissermaßen angenehm enttäuschte; diese Leute hatten gehofft oder gefürchtet, ich würde mit Keulen dreinschlagen, in Beurteilung der Dramen von einem noch strengern Standpunkt als S. Heller, in der Beurteilung der Schauspieler noch rücksichtsloser. Ich aber merkte bald, daß ich von den meisten Autoren, von einigen Schauspielern und eigentlich von Ungeschicklichkeiten meiner Aufsätze noch sehr viel zu lernen hatte, daß ich im Grunde nur mangelhaft vorbereitet mein hohes Richteramt übernommen hatte. Ich kannte fast keine andere Bühne, hatte selbst in Wien im Burgtheater nur wenige Stücke aufführen sehen; ich konnte also nicht vergleichen und schwärmte eigentlich noch ein wenig für die recht guten Mitglieder des Prager Landestheaters,[257] für meinen ersten Karl Moor, für mein erstes Gretchen. So war ich eigentlich vorherbestimmt, wenigstens in bezug auf die Schauspieler, den Lokalpatriotismus des Provinzkritikers zu bewähren, wenn nicht ein glücklicher Instinkt mich schon seit vielen Jahren alle Gäste des Prager Landestheaters hätte kennenlernen lassen. Bei ihnen, bei den berühmten Wienern, bei Davison und Emil Devrient, bei der Ristori und vor allem bei Rossi, der damals auf seiner Höhe stand, suchte ich meine Maßstäbe, etwas wahllos, wie ich nicht leugnen kann. Ich schreibe das aus meiner Erinnerung nieder; ich habe nicht Andacht genug zum Kleinen, um etwa all diese alten Schreibereien kommen zu lassen, nachzulesen und selbst eine der Schlangenhäute auszuklopfen, die ich vor 40 Jahren abgestreift habe.

Der Reiz, den das Getriebe auch eines so kleinen Blattes dem Neuling gewähren mußte und konnte, wird wohl nur wenige Wochen vorgehalten haben. Nicht viel länger der Humor, mit dem ich dann die unfruchtbaren Anstrengungen meines idealistischen Chefs anzusehen begann. Ich sehnte mich fort, wahrlich nicht nach einer Großstadt, wohl aber in das geträumte Getriebe eines Weltblatts, wo überlegene Geistesfürsten der Kunst und dem Staate ihre Gesetze diktierten. Und ich sehnte mich hinaus, nach Deutschland, ins »Reich«.

Ich glaube nicht, daß nach meiner Anlage die ökonomischen Verhältnisse des Blattes diese Wandersehnsucht stark beeinflußten. Ich hatte ja am Tische meiner Mutter satt zu essen. Aber die Behandlung der Geldfrage ging denn doch über den Spaß. Der »Tagesbote« hatte nämlich so etwas wie einen Kassierer. Bei dem stellte ich mich jedesmal pünktlich am 1. des Monats ein, um die vereinbarten fünfzig Gulden zu verlangen.[258] Jedesmal erhielt ich zur Antwort, es wäre kein Geld in der Kasse, aber der Herr Kassierer wäre bereit, mir den Betrag persönlich gegen Schuldschein darzuleihen. Der versprochene Mammon hatte bereits meine Lebensansprüche gesteigert; ich ging mitunter nach dem Theater in ein Restaurant und stand schon in den Schuldbüchern zweier Blumenhandlungen und (jawohl) eines Juweliers. Ich hatte einen kleinen Ring nach meiner Zeichnung anfertigen lassen; ich werde aber die Geschichte dieses Ringleins nicht erzählen. Ich wollte nur die Gründe angeben, die mich zwangen, an jedem Ersten den Schuldschein des Kassierers zu unterschreiben. Zur Tilgung seiner Forderung, die sich eben Monat für Monat um den Betrag meines »Gehaltes« erhöhte, mußte ich mir vor meinem Abgange einige hundert Gulden verschaffen. Als ich eben im Begriffe war, einem Wucherer in die Hände zu fallen, half ein tschechischer Freund aus, der sich später als geduldig erwies.

Der Tropfen, der endlich den Becher zum Überlaufen brachte, war ein Vorfall, der sich sehr bald nachher fast in gleicher Weise einmal zu Berlin wiederholte. Ich hatte ein Feuilleton geschrieben, das einem meiner beiden Kollegen – ich möchte ihn nicht kenntlich machen – besonders gefallen haben mußte; ich fand es am nächsten Tage im Blatte mit seinen Initialen unterzeichnet. Auf meine sehr schüchterne Frage, was das zu bedeuten hätte, bekam ich die Antwort: die Kleinigkeit wäre ja ganz nett gewesen, er hätte aber nach Mitternacht plötzlich Angst um mich bekommen; eine Vision; Staatsanwalt; ich wäre noch so jung; er wäre ein gebrochener Mann, ein Tagelöhner der Zeitung, auf sein Leben käme es nicht an; da hätte er sich mit Aufopferung schützend vor mich gestellt und[259] die Initialen geändert. (Als die gleiche Geschichte etwa ein Jahr später in Berlin passierte, lautete die Erklärung in etwas anderer Tonart: ein so junger Fuchs wie ich müßte froh sein, wenn ein bewährter Kämpe durch seinen Namen meine Erstlingsarbeiten adelte.) Dabei blickte mich der Mann so gemütlich hilfeflehend an, daß ich entwaffnet war. Ich schämte mich nur und faßte den Entschluß fortzugehn. Wer weiß aber, ob ich die Energie aufgebracht hätte, dem Zureden David Kuhs Widerstand entgegenzusetzen, wenn nicht gerade um diese Zeit begreiflicherweise T .... uns wiedergeschenkt worden wäre. Eines Nachmittags, ich saß just im Stuhle vor dem Feuilletontisch, eine Wiener Zeitung in der Hand, öffnete T .... unangemeldet die Tür, stellte den dicken Stock und den alten Künstlerhut in die gewohnte Ecke und schaute mich an ... Es war rührend. Ich erhob mich; er drückte sein Sitzfleisch in den Feuilletonstuhl. Alles wortlos. Er begann zu schreiben und wischte sich schon nach wenigen Minuten den Schweiß ab; er dichtete also an seiner Wochenplauderei. Und ich war nicht mehr Theaterkritiker am »Tagesboten«.[260]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 248-261.
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