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[1109] Das Zärtlicherwerden. – Wenn wir jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, finden, daß er leidet, – immer mit großem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als daß unser von ihm herströmendes Glück aus einem überreichen Borne eigenen Glückes komme –, so ändert sich unser Gefühl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in etwas Wesentlichem: es wird zärtlicher, das heißt: die Kluft zwischen ihm und uns scheint sich zu überbrücken, eine Annäherung an Gleichheit scheint stattzufinden. Jetzt erst gilt es uns als möglich, ihm zurückgeben zu können, während er früher über unsere Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurückgebenkönnen eine große Freude und Erhebung. Wir suchen zu erraten, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm dies; will er tröstliche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke – wir geben es; vor allem aber: will er uns leidend über sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem den Genuß der tätigen Dankbarkeit: als welche, kurz gesagt, die gute Rache ist. Will und nimmt er gar nichts von uns an, so gehen wir erkältet und traurig, fast gekränkt[1109] fort: es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurückgewiesen würde, – und in diesem Ehrenpunkte ist der Gütigste noch kitzlich. – Aus dem allen folgt, daß, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt; was beide Empfindungen auf ewig voneinander trennt.
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Morgenröte
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