[857] Jetzt erst, nachdem wir den asketischen Priester in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem Probleme: was bedeutet das asketische Ideal? ernsthaft auf den Leib – jetzt erst wird es »Ernst«: wir haben nunmehr den eigentlichen Repräsentanten des Ernstes überhaupt uns gegenüber. »Was bedeutet aller Ernst?« – diese noch grundsätzlichere Frage legt sich vielleicht hier schon auf unsre Lippen: eine Frage für[857] Physiologen, wie billig, an der wir aber einstweilen noch vorüberschlüpfen. Der asketische Priester hat in jenem Ideale nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Willen, seine Macht, sein Interesse. Sein Recht zum Dasein steht und fällt mit jenem Ideale: was wunder, daß wir hier auf einen furchtbaren Gegner stoßen, gesetzt nämlich, daß wir die Gegner jenes Ideales wären? einen solchen, der um seine Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft?... Andrerseits ist es von vornherein nicht wahrscheinlich, daß eine dergestalt interessierte Stellung zu unsrem Probleme diesem sonderlich zunutze kommen wird; der asketische Priester wird schwerlich selbst nur den glücklichsten Verteidiger seines Ideals abgeben, aus dem gleichen Grunde, aus dem es einem Weibe zu mißlingen pflegt, wenn es »das Weib an sich« verteidigen will – geschweige denn den objektivsten Beurteiler und Richter der hier aufgeregten Kontroverse. Eher also werden wir ihm noch zu helfen haben – so viel liegt jetzt schon auf der Hand –, sich gut gegen uns zu verteidigen, als daß wir zu fürchten hätten, zu gut von ihm widerlegt zu werden... Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die Wertung unsres Lebens seitens der asketischen Priester: dasselbe wird (samt dem, wozu es gehört, »Natur«, »Welt«, die gesamte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, zu dem es sich gegensätzlich und ausschließend verhält, es sei denn, daß es sich etwa gegen sich selber wende, sich selbst verneine: in diesem Falle, dem Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre Dasein. Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rückwärts gehn müsse, bis dorthin, wo er anfängt; oder wie einen Irrtum, den man durch die Tat widerlege – widerlegen solle: denn er fordert, daß man mit ihm gehe, er erzwingt, wo er kann, seine Wertung des Daseins. Was bedeutet das? Eine solche ungeheuerliche Wertungsweise steht nicht als Ausnahmefall und Kuriosum in die Geschichte des Menschen eingeschrieben: sie ist eine der breitesten und längsten Tatsachen, die es gibt. Von einem fernen Gestirn ausgelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluß verführen, die Erde sei der eigentlich asketische Stern, ein Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden[858] und sich selber so viel wehtäten als möglich, aus Vergnügen am Weh-tun – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen. Erwägen wir doch, wie regelmäßig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die Erscheinung tritt; er gehört keiner einzelnen Rasse an; er gedeiht überall; er wächst aus allen Ständen heraus. Nicht daß er etwa seine Wertungsweise durch Vererbung züchtete und weiterpflanzte: das Gegenteil ist der Fall – ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr, ins große gerechnet, die Fortpflanzung. Es muß eine Nezessität ersten Ranges sein, welche diese lebensfeindliche Spezies immer wieder wachsen und gedeihen macht – es muß wohl ein Interesse des Lebens selbst sein, daß ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sondergleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, insonderheit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Einbuße, an der Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies ist alles im höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig will, welche sich selbst in diesem Leiden genießt und in dem Maße sogar immer selbstgewisser und triumphierender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, abnimmt. »Der Triumph gerade in der letzten Agonie«: unter diesem superlativischen Zeichen kämpfte von jeher das asketische Ideal; in diesem Rätsel von Verführung, in diesem Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein hellstes Licht, sein Heil, seinen endlichen Sieg. Crux, nux, lux – das gehört bei ihm in eins. –
Gesetzt, daß ein solcher leibhafter Wille zur Kontradiktion und Widernatur dazu gebracht wird, zu philosophieren: woran wird er seine[859] innerlichste Willkür auslassen? An dem, was am allersichersten als wahr, als real empfunden wird: er wird den Irrtum gerade dort suchen, wo der eigentliche Lebens-Instinkt die Wahrheit am unbedingtesten ansetzt. Er wird zum Beispiel, wie es die Asketen der Vedânta-Philosophie taten, die Leiblichkeit zur Illusion herabsetzen, den Schmerz insgleichen, die Vielheit, den ganzen Begriffs-Gegensatz »Subjekt« und »Objekt« – Irrtümer, nichts als Irrtümer! Seinem Ich den Glauben versagen, sich selber seine »Realität« verneinen – welcher Triumph! – schon nicht mehr bloß über die Sinne, über den Augenschein, eine viel höhere Art Triumph, eine Vergewaltigung und Grausamkeit an der Vernunft: als welche Wollust damit auf den Gipfel kommt, daß die asketische Selbstverachtung, Selbstverhöhnung der Vernunft dekretiert: »es gibt ein Reich der Wahrheit und des Seins, aber gerade die Vernunft ist davon ausgeschlossen!«... (Anbei gesagt: selbst noch in dem Kantischen Begriff »intelligibler Charakter der Dinge« ist etwas von dieser lüsternen Asketen-Zwiespältigkeit rückständig, welche Vernunft gegen Vernunft zu kehren liebt: »intelligibler Charakter« bedeutet nämlich bei Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der Intellekt gerade soviel begreift, daß sie für den Intellekt – ganz und gar unbegreiflich ist.) – Seien wir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Wertungen, mit denen der Geist allzulange scheinbar freventlich und nutzlos gegen sich selbst gewütet hat: dergestalt einmal anders sehn, anders sehn-wollen ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen »Objektivität« – letztere nicht als »interesselose Anschauung« verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so daß man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntnis nutzbar zu machen weiß. Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis« angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie »reine Vernunft«, »absolute Geistigkeit«, »Erkenntnis an sich«; – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann,[860] ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretierenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff vom Auge verlangt. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Objektivität« sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, die Affekte samt und sonders aushängen, gesetzt, daß wir dies vermöchten: wie? hieße das nicht den Intellekt kastrieren?...
Aber kehren wir zurück. Ein solcher Selbstwiderspruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint, »Leben gegen Leben« ist – so viel liegt zunächst auf der Hand –, physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet, einfach Unsinn. Er kann nur scheinbar sein; er muß eine Art vorläufigen Ausdrucks, eine Auslegung, Formel, Zurechtmachung, ein psychologisches Mißverständnis von etwas sein, dessen eigentliche Natur lange nicht verstanden, lange nicht an sich bezeichnet werden konnte – ein bloßes Wort, eingeklemmt in eine alte Lücke der menschlichen Erkenntnis. Und daß ich kurz den Tatbestand dagegen stelle: das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals meinen – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens. Daß dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort, wo die Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit[861] im bisherigen Typus des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«). Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet; eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen – eben mit dieser Macht hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit? Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier, Natur und Göttern ringt – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt – wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken Tieren sein?... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes): aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich selbst – alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben...
[862] Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Tut man das?... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiß man das?... Ins große gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein – sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis, das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der »letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft – ich rede, wie billig, von den Kulturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«, das es nachgerade auf Erden gibt. Die Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubtiere«. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen – sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht – jenem Blick, der ein Seufzer ist! »Möchte ich irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!«... Auf solchem Boden[863] der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung – der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt. Und welche Verlogenheit, um diesen Haß nicht als Haß einzugestehn! Welcher Aufwand an großen Worten und Attitüden, welche Kunst der »rechtschaffnen« Verleumdung! Diese Mißratenen: welche edle Beredsamkeit entströmt ihren Lippen! Wieviel zuckrige, schleimige, demütige Ergebung schwimmt in ihren Augen! Was wollen sie eigentlich? Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens darstellen – das ist der Ehrgeiz dieser »Untersten«, dieser Kranken! Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz! Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachgemacht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, diese Schwachen und Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel: »wir allein sind die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, wir allein sind die homines bonae voluntatis.« Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns – wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit« wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit, alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Spezies der Eitlen nicht, die verlognen Mißgeburten, die darauf aus sind, »schöne Seelen« darzustellen, und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als »Reinheit des Herzens« auf den Markt bringen: die Spezies der moralischen Onanisten und »Selbstbefriediger«. Der Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt[864] für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen« Pharisäer (– ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!«... Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln. Fort mit dieser »verkehrten Welt«! Fort mit dieser schändlichen Verweichlichung des Gefühls! Daß die Kranken nicht die Gesunden krank machen – und dies wäre eine solche Verweichlichung –, das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein – dazu aber gehört[865] vor allen Dingen, daß die Gesunden von den Kranken abgetrennt bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der Kranken, daß sie sich nicht mit den Kranken verwechseln. Oder wäre es etwa ihre Aufgabe, Krankenwärter oder Ärzte zu sein?... Aber sie könnten ihre Aufgabe gar nicht schlimmer verkennen und verleugnen – das Höhere soll sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen, das Pathos der Distanz soll in alle Ewigkeit auch die Aufgaben auseinanderhalten! Ihr Recht, dazusein, das Vorrecht der Glocke mit vollem Klange vor der mißtönigen, zersprungenen, ist ja ein tausendfach größeres: sie allein sind die Bürgen der Zukunft, sie allein sind verpflichtet für die Menschen-Zukunft. Was sie können, was sie sollen, das dürften niemals Kranke können und sollen: aber damit sie können, was nur sie sollen, wie stünde es ihnen noch frei, den Arzt, den Trostbringer, den »Heiland« der Kranken zu machen?... Und darum gute Luft! gute Luft! und weg jedenfalls aus der Nähe von allen Irren- und Krankenhäusern der Kultur! Und darum gute Gesellschaft, unsre Gesellschaft! Oder Einsamkeit, wenn es sein muß! Aber weg jedenfalls von den üblen Dünsten der inwendigen Verderbnis und des heimlichen Kranken-Wurmfraßes!... Damit wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen verteidigen, die gerade für uns aufgespart sein mögen – gegen den großen Ekel am Menschen! gegen das große Mitleid mit dem Menschen!...
Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, daß man hier gerade tief greift, tief begreift –, inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Notwendigkeit mehr begriffen – die Notwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, die selber krank sind: und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von[866] Glück. Er muß selber krank sein, er muß den Kranken und Schlechtweggekommnen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen – um sich mit ihnen zu verstehen; aber er muß auch stark sein, mehr Herr noch über sich als über andere, unversehrt namentlich in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann. Er hat sie zu verteidigen, seine Herde – gegen wen? Gegen die Gesunden, es ist kein Zweifel, auch gegen den Neid auf die Gesunden; er muß der natürliche Widersacher und Verächter aller rohen, stürmischen, zügellosen, harten, gewalttätig-raubtierhaften Gesundheit und Mächtigkeit sein. Der Priester ist die erste Form des delikateren Tiers, das leichter noch verachtet als haßt. Es wird ihm nicht erspart bleiben, Krieg zu führen mit den Raubtieren, einen Krieg der List (des »Geistes«) mehr als der Gewalt, wie sich von selbst versteht – er wird es dazu unter Umständen nötig haben, beinahe einen neuen Raubtier-Typus an sich herauszubilden, mindestens zu bedeuten – eine neue Tier-Furchtbarkeit, in welcher der Eisbär, die geschmeidige kalte abwartende Tigerkatze und nicht am wenigsten der Fuchs zu einer ebenso anziehenden als furchteinflößenden Einheit gebunden scheinen. Gesetzt, daß die Not ihn zwingt, so tritt er dann wohl bärenhaft-ernst, ehrwürdig, klug, kalt, trügerisch-überlegen, als Herold und Mundstück geheimnisvollerer Gewalten, mitten unter die andere Art Raubtiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwiespalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen und, seiner Kunst nur zu gewiß, über Leidende jederzeit Herr zu werden. Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde – darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger, in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt – er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener[867] gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Täter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Täter – kurz irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte tätlich oder in effigie auf irgendeinen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der größte Erleichterungs-, nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narkotikum gegen Qual irgendwelcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermutung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrtümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer bloßen Schutzmaßregel der Reaktion, einer »Reflexbewegung« im Falle irgendeiner plötzlichen Schädigung und Gefährdung von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgendwelcher Art betäuben und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewußtsein schaffen – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. »Irgend jemand muß schuld daran sein, daß ich mich schlecht befinde« – diese Art zu schließen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-schlecht-Befindens, die physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des nervus sympathicus liegen oder an einer übermäßigen Gallen-Absonderung oder in einer Armut des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder in Druckzuständen des Unterleibs, welche den Blutumlauf stauen, oder in Entartung der Eierstöcke und dergleichen). Die Leidenden sind allesamt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit[868] und Erfindsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten; sie genießen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reißen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übeltäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. »Ich leide: daran muß irgend jemand schuld sein« – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: »Recht so, mein Schaf! irgendwer muß daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld – du selbst bist an dir allein schuld!«... Das ist kühn genug, falsch genug: aber eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verändert.
Man errät nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum mindesten versucht hat und wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie »Schuld«, »Sünde«, »Sündhaftigkeit«, »Verderbnis«, »Verdammnis« hat dienen müssen: die Kranken bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärts-Richtung ihres Ressentiment zu geben (»Eins ist not« –) und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisziplinierung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung auszunützen. Es kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer »Medikation« dieser Art, einer bloßen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche Kranken-Heilung im physiologischen Verstande handeln; man dürfte selbst nicht einmal behaupten, daß der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das Wort »Kirche« ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger Sicherstellung[869] der Gesünder-Geratenen, der Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreißung einer Kluft somit zwischen Gesund und Krank – das war für lange alles! Und es war viel! es war sehr viel!... (Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe: daß »Sündhaftigkeit« am Menschen kein Tatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Tatbestandes, nämlich einer physiologischen Verstimmung – letztere unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat. – Damit, daß jemand sich »schuldig«, »sündig« fühlt, ist schlechterdings noch nicht bewiesen, daß er sich mit Recht so fühlt; so wenig jemand gesund ist bloß deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse: damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, daß hier eine Schuld vorliege; die »Hexen« selbst zweifelten nicht daran – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in erweiterter Form auszudrücken: der »seelische Schmerz« selbst gilt mir überhaupt nicht als Tatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Kausal-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulierenden Tatbeständen: somit als etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn jemand mit einem »seelischen Schmerz« nicht fertig wird, so liegt das, grob geredet, nicht an seiner »Seele«; wahrscheinlicher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie gesagt: womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden...). Ein starker und wohlgeratner Mensch verdaut seine Erlebnisse (Taten, Untaten eingerechnet), wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse »nicht fertig«, so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der Tat nur eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch der strengste Gegner alles Materialismus sein...)
[870] Ist er aber eigentlich ein Arzt, dieser asketische Priester? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als »Heiland« fühlt, als »Heiland« verehren läßt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, nicht deren Ursache, nicht das eigentliche Kranksein – das muß unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was er unter ihr alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die Milderung des Leidens, das »Trösten« jeder Art – das erweist sich als sein Genie selbst; wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr die Mittel gewählt! Das Christentum insonderheit dürfte man eine große Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Equickliches, Milderndes, Narkotisierendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffiniert, so südländisch-raffiniert ist von ihm insbesondere erraten worden, mit was für Stimulanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn, allgemein gesprochen: bei allen großen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. Man kann es von vornherein als wahrscheinlich ansetzen, daß von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast notwendig ein physiologisches Hemmungsgefühl über breite Massen Herr werden muß, welches aber, aus Mangel an physiologischem Wissen, nicht als solches ins Bewußtsein tritt, so daß dessen »Ursache«, dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für das, was gemeinhin eine »Religion« genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Abkunft sein: etwa als Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drücken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus: der europäische »Weltschmerz«, der »Pessimismus« des neunzehnten[871] Jahrhunderts, ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung); oder bedingt durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein Klima geraten, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien); oder die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an); oder einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters; der Unsinn der vegetarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben); oder von Blutverderbnis, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche Depression nach dem Dreißigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmut vorbereitete). In einem solchen Falle wird jedesmal im größten Stil ein Kampf mit dem Unlustgefühl versucht; unterrichten wir uns kurz über dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Philosophen-Kampf gegen das Unlustgefühl, der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz beiseite – er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktisch-gleichgültig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrtum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, daß der Schmerz schwinden müsse, wenn erst der Irrtum in ihm erkannt ist – aber siehe da! er hütete sich, zu schwinden...) Man bekämpft erstens jene dominierende Unlust durch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr; allem, was Affekt macht, was »Blut« macht, ausweichen (kein Salz essen: Hygiene des Fakirs); nicht lieben; nicht hassen; Gleichmut; nicht sich rächen; nicht sich bereichern; nicht arbeiten; betteln; womöglich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich; in geistiger Hinsicht das Prinzip Pascals »il faut s'abêtir«. Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrückt, »Entselbstung«, »Heiligung«; physiologisch ausgedrückt: Hypnotisierung – der Versuch, etwas für den Menschen annähernd zu erreichen, was der Winterschlaf für einige Tierarten, der Sommerschlaf für viele Pflanzen der heißen Klimate ist, ein Minimum von Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch ins Bewußtsein zu treten. Auf dieses Ziel ist eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt worden – umsonst etwa?.. Daß solche sportsmen der[872] »Heiligkeit«, an denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der Tat eine wirkliche Erlösung von dem gefunden haben, was sie mit einem so rigorosen training bekämpften, daran darf man durchaus nicht zweifeln – sie kamen von jener tiefen physiologischen Depression mit Hilfe ihres Systems von Hypnotisierungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich los: weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten ethnologischen Tatsachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubnis dazu, um schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und der Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden »Freigeistern« und Junker Christophen zu tun beliebt). Um so sicherer ist es, daß sie den Weg zu allerhand geistigen Störungen abgibt, abgeben kann, zu »inneren Lichtern« zum Beispiel, wie bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Halluzinationen, zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der Sinnlichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Auslegung, welche derartigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben wird, ist immer so schwärmerisch-falsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von selbst: nur überhöre man den Ton überzeugtester Dankbarkeit nicht, der eben schon im Willen zu einer solchen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der höchste Zustand, die Erlösung selbst, jene endlich erreichte Gesamt-Hypnotisierung und Stille, gilt ihnen immer als das Geheimnis an sich, zu dessen Ausdruck auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als Ein- und Heimkehr in den Grund der Dinge, als Freiwerden von allem Wahne, als »Wissen«, als »Wahrheit«, als »Sein«, als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem Tun, als ein Jenseits auch von Gut und Böse. »Gutes und Böses«, sagt der Buddhist – »beides sind Fesseln: über beides wurde der Vollendete Herr«; »Getanes und Ungetanes«, sagt der Gläubige des Vedânta, »schafft ihm keinen Schmerz; das Gute und das Böse schüttelt er als ein Weiser von sich; sein Reich leidet durch keine Tat mehr; über Gutes und Böses, über beides ging er hinaus«: – eine gesamt-indische Auffassung also, ebenso brahmanistisch als buddhistisch. (Weder in der indischen, noch in der christlichen Denkweise gilt jene »Erlösung« als erreichbar durch Tugend, durch moralische Besserung, so hoch der Hypnotisierungs-Wert der Tugend auch von ihnen angesetzt wird: dies halte man fest[873] – es entspricht dies übrigens einfach dem Tatbestande. Hierin wahr geblieben zu sein, darf vielleicht als das beste Stück Realismus in den drei größten, sonst so gründlich vermoralisierten Religionen betrachtet werden. »Für den Wissenden gibt es keine Pflicht«... »Durch Zulegung von Tugenden kommt Erlösung nicht zustande: denn sie besteht im Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman; und ebensowenig in der Ablegung von Fehlern: denn das Brahman, mit dem eins zu sein das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein« – diese Stellen aus dem Kommentare des Çankara, zitiert von dem ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.) Die »Erlösung« in den großen Religionen wollen wir also in Ehren halten; dagegen wird es uns ein wenig schwer, bei der Schätzung, welche schon der tiefe Schlaf durch diese selbst für das Träumen zu müd gewordnen Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben – der tiefe Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman, als erreichte unio mystica mit Gott. »Wenn er dann eingeschlafen ist ganz und gar« – heißt es darüber in der ältesten und ehrwürdigsten »Schrift« – »und völlig zur Ruhe gekommen, daß er kein Traumbild mehr schaut, alsdann ist er, o Teurer, vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst ist er eingegangen – von dem erkenntnisartigen Selbst umschlungen, hat er kein Bewußtsein mehr von dem, was außen oder innen ist. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das Alter, nicht der Tod, nicht das Leiden, nicht gutes Werk, noch böses Werk.« »Im tiefen Schlafe«, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei großen Religionen, »hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt: da ist sie der höchste Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches der prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugtier an den Karren.« Trotzdem wollen wir auch hier wie im Falle der »Erlösung« uns gegenwärtig halten, daß damit im Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war: das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, [874] Leidlosigkeit kurzum – das darf Leidenden und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Wert der Werte gelten, das muß von ihnen als positiv abgeschätzt, als das Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heißt in allen pessimistischen Religionen das Nichts Gott.)
Viel häufiger als eine solche hypnotistische Gesamtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, welche schon seltnere Kräfte, vor allem Mut, Verachtung der Meinung, »intellektuellen Stoizismus« voraussetzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist: die machinale Tätigkeit. Daß mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht außer allem Zweifel: man nennt heute diese Tatsache, etwas unehrlich, »den Segen der Arbeit«. Die Erleichterung besteht darin, daß das Interesse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abgelenkt wird –, daß beständig ein Tun und wieder nur ein Tun ins Bewußtsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt: denn sie ist eng, diese Kammer des menschlichen Bewußtseins! Die machinale Tätigkeit und was zu ihr gehört – wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-allemal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubnis, ja eine Zucht zur »Unpersönlichkeit«, zum Sich-selbst-Vergessen, zur »incuria sui« –: wie gründlich, wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewußt! Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu tun hatte (oder mit Frauen: die ja meistens beides zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhaßten Dingen fürderhin eine Wohltat, ein relatives Glück sehn zu machen – die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Los ist jedenfalls nicht von den Priestern erfunden worden. – Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinierung einer kleinen Freude, die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der[875] eben besprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordiniert wird, ist die Freude des Freude-Machens (als Wohltun, Beschenken, Erleichtern, Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen); der asketische Priester verordnet damit, daß er »Nächstenliebe« verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebensbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosierung – des Willens zur Macht. Das Glück der »kleinsten Überlegenheit«, wie es alles Wohltun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt, daß sie gut beraten sind: im andern Falle tun sie einander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des Christentums in der römischen Welt sucht, so findet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, Begräbnis-Vereine, aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewußtsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohltuns gepflegt wurde – vielleicht war dies damals etwas Neues, eine eigentliche Entdeckung? In einem dergestalt hervorgerufnen »Willen zur Gegenseitigkeit«, zur Herdenbildung, zur »Gemeinde«, zum »Zönakel« muß nun wiederum jener damit, wenn auch im kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen: die Herdenbildung ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt auch für den einzelnen ein neues Interesse, das ihn oft genug über das Persönlichste seines Mißmuts, seine Abneigung gegen sich (die »despectio sui« des Geulincx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer Herden-Organisation: der asketische Priester errät diesen Instinkt und fördert ihn; wo es Herden gibt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Herde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisiert hat. Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso naturnotwendig auseinander, als die Schwachen zueinander; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesamt-Aktion und Gesamt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens; letztere dagegen ordnen sich zusammen,[876] mit Lust gerade an dieser Zusammenordnung – ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen »Herren« (das heißt der solitären Raubtier-Spezies Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das tyrannische Gelüst versteckt; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder einzelne in ihr nötig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel griechisch: Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seinesgleichen kannte – und sich selbst...)
Die Mittel des asketischen Priesters, welche wir bisher kennenlernten – die Gesamt-Dämpfung des Lebensgefühls, die machinale Tätigkeit, die kleine Freude, vor allem die der »Nächstenliebe«, die Herden-Organisation, die Erweckung des Gemeinde-Machtgefühls, demzufolge der Verdruß des einzelnen an sich durch seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt wird – das sind, nach modernem Maße gemessen, seine unschuldigen Mittel im Kampfe mit der Unlust: wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den »schuldigen«. Bei ihnen allen handelt es sich um eins: um irgendeine Ausschweifung des Gefühls – diese gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftigkeit als wirksamstes Mittel der Betäubung benutzt; weshalb die priesterliche Erfindsamkeit im Ausdenken dieser einen Frage geradezu unerschöpflich gewesen ist: »wodurch erzielt man eine Ausschweifung des Gefühls?«... Das klingt hart: es liegt auf der Hand, daß es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren ginge, wenn ich etwa sagte »der asketische Priester hat sich jederzeit die Begeisterung zunutze gemacht, die in allen starken Affekten liegt«. Aber wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärtlinge noch streicheln? Wozu unsrerseits ihrer Tartüfferie der Worte auch nur einen Schritt breit nachgeben? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüfferie der Tat, abgesehen davon, daß es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute darin, wenn irgendworin, seinen guten Geschmack (– andre mögen sagen: seine Rechtschaffenheit), daß er der schändlich vermoralisierten Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urteilen über Mensch[877] und Ding angeschleimt ist. Denn man täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit. Diese »Unschuld« überall wieder entdecken müssen – das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat; es ist ein Stück unsrer großen Gefahr – es ist ein Weg, der vielleicht gerade uns zum großen Ekel führt... Ich zweifle nicht daran, wozu allein moderne Bücher (gesetzt, daß sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, daß es einmal eine Nachwelt mit strengerem härterem gesünderem Geschmack gibt) – wozu alles Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte: zu Brechmitteln – und das vermöge seiner moralischen Versüßlichung und Falschheit, seines innerlichsten Femininismus, der sich gern »Idealismus« nennt und jedenfalls Idealismus glaubt. Unsre Gebildeten von heute, unsre »Guten« lügen nicht – das ist wahr; aber es gereicht ihnen nicht zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die echte resolute »ehrliche« Lüge (über deren Wert man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen darf, daß sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, daß sie zwischen »wahr« und »falsch« bei sich selber zu unterscheiden wüßten. Ihnen geziemt allein die unehrliche Lüge; alles, was sich heute als »guter Mensch« fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgendeiner Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese »guten Menschen« – sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zuschanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit »über den Menschen« aus!.. Oder, greiflicher gefragt: wer von ihnen ertrüge eine wahre Biographie!.. Ein paar Anzeichen: Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas Moore war »zu gut« dafür: er verbrannte die Papiere seines Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner getan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopenhauers: denn auch Schopenhauer hatte einiges über sich und vielleicht auch gegen sich (»eis heauton«) aufgezeichnet. Der tüchtige[878] Amerikaner Thayer, der Biograph Beethovens, hat mit einem Male in seiner Arbeit haltgemacht: an irgendeinem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus... Moral: welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müßte denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagners: wer zweifelt daran, daß es eine kluge Selbstbiographie sein wird?... Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos geratenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat; was würde man erst beginnen, wenn uns jemand diese Bewegung einmal anders erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzählte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der süßlichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer Taineschen Unerschrockenheit, aus einer Stärke der Seele heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke?... (Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht – sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zugute rechnen: nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen »Tatsächlichen«.)
Aber man wird mich schon verstanden haben – Grund genug, nicht wahr, alles in allem, daß wir Psychologen heutzutage einiges Mißtrauen gegen uns selbst nicht loswerden?... Wahrscheinlich sind auch wir noch »zu gut« für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute, die Kranken dieses vermoralisierten Zeitgeschmacks, so sehr wir uns auch als dessen Verächter fühlen – wahrscheinlich infiziert er auch noch uns. Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seinesgleichen redete? »Mißtrauen wir vor allem, meine Herren, unsren ersten Regungen!« sagte er, »sie sind fast immer gut«... So sollte auch jeder Psycholog heute zu seinesgleichen reden... Und damit kommen wir zu unserm Problem zurück, das in der Tat[879] von uns einige Strenge verlangt, einiges Mißtrauen insonderheit gegen die »ersten Regungen«. Das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Gefühls-Ausschweifung – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im wesentlichen schon vorwegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste, Gluten und Entzückungen derartig unterzutauchen, daß sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt: welche Wege führen zu diesem Ziele? Und welche von ihnen am sichersten?... Im Grunde haben alle großen Affekte ein Vermögen dazu, vorausgesetzt, daß sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust, Rache, Hoffnung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit; und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die ganze Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen und bald diesen, bald jenen losgelassen, immer zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes Elend für Zeiten wenigstens in die Flucht zu jagen, immer auch unter einer religiösen Interpretation und »Rechtfertigung«. Jede derartige Ausschweifung des Gefühlsmacht sich hinterdrein bezahlt, das versteht sich von selbst – sie macht den Kranken kränker –: und deshalb ist diese Art von Remeduren des Schmerzes, nach modernem Maße gemessen, eine »schuldige« Art. Man muß jedoch, weil es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehn, daß sie mit gutem Gewissen angewendet worden ist, daß der asketische Priester sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet hat – und oft genug selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend; insgleichen, daß die vehementen physiologischen Revanchen solcher Exzesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser Art Medikation nicht eigentlich widersprechen: als welche, wie vorher gezeigt worden ist, nicht auf Heilung von Krankheiten, sondern auf Bekämpfung der Depressions-Unlust, auf deren Linderung, deren Betäubung aus war. Dies Ziel wurde auch so erreicht. Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jede Art von zerreißender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit getan – jedermann weiß das –,[880] daß er sich das Schuldgefühl zunutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück Tierpsychologie, als nicht mehr: das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – o was für eine Gestalt! Die »Sünde« – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des tierischen »schlechten Gewissens« (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bisher das größte Ereignis in der Geschichte der kranken Seele gewesen: in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnisvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch etwa wie ein Tier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu?, begehrlich nach Gründen – Gründe erleichtern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, berät sich endlich mit einem, der auch das Verborgne weiß – und siehe da! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den ersten Wink über die »Ursache« seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn... Er hat gehört, er hat verstanden, der Unglückliche: jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus: aus dem Kranken ist »der Sünder« gemacht... Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, »des Sünders«, für ein paar Jahrtausende nicht los – wird man ihn je wieder los? –, wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der einen Richtung bewegt (in der Richtung auf »Schuld«, als der einzigen Leidens-Kausalität); überall das böse Gewissen, dies »grewliche thier«, mit Luther zu reden; überall die Vergangenheit zurückgekäut, die Tat verdreht, das »grüne Auge« für alles Tun; überall das zum Lebensinhalt gemachte Mißverstehen-Wollen des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle; überall die Geißel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung; überall das Sich-selbst-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaft-lüsternen Gewissens; überall die stumme Qual, die äußerste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach »Erlösung«. In der Tat, mit diesem System[881] von Prozeduren war die alte Depression, Schwere und Müdigkeit gründlich überwunden, das Leben wurde wieder sehr interessant: wach, ewig wach, übernächtig, glühend, verkohlt, erschöpft und doch nicht müde – so nahm sich der Mensch aus, »der Sünder«, der in diese Mysterien eingeweiht war. Dieser alte große Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester – er hatte ersichtlich gesiegt, sein Reich war gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den Schmerz, man lechzte nach dem Schmerz; »mehr Schmerz! mehr Schmerz!« so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten jahrhundertelang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehtat, alles was zerbrach, umwarf, zermalmte, entrückte, verzückte, das Geheimnis der Folterstätten, die Erfindsamkeit der Hölle selbst – alles war nunmehr entdeckt, erraten, ausgenützt, alles stand dem Zauberer zu Diensten, alles diente fürderhin dem Siege seines Ideals, des asketischen Ideals... »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« – redete er nach wie vor: hatte er wirklich das Recht noch, so zu reden?... Goethe hat behauptet, es gäbe nur sechsunddreißig tragische Situationen: man errät daraus, wenn man's sonst nicht wüßte, daß Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt mehr...
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