Vierter Vortrag
(Gehalten am 5. März 1872)

[229] Meine verehrten Zuhörer! Nachdem Sie bis hierher meiner Erzählung getreulich gefolgt sind, und wir gemeinsam jenes einsame, entlegene, hier und da beleidigende Zwiegespräch des Philosophen und seines Begleiters überwunden haben, muß ich mir Hoffnung machen, daß Sie nun auch, wie rüstige Schwimmer, die zweite Hälfte unserer Fahrt zu überstehen Lust haben, zumal ich Ihnen versprechen kann, daß auf dem kleinen Marionettentheater meines Erlebnisses jetzt einige andere Puppen sich zeigen werden und daß überhaupt, falls Sie nur bis hierher ausgehalten haben, die Wellen der Erzählung Sie jetzt leichter und schneller bis zu Ende tragen sollen. Wir sind nämlich jetzt bald an einer Wendung angelangt: und um so ratsamer möchte es sein, uns dessen noch einmal, mit kurzem Rückblick, zu versichern, was wir aus dem so wechselreichen Gespräch gewonnen zu haben meinen.

»Bleibe an deinem Posten«, so schien der Philosoph seinem Begleiter zuzurufen; »denn du darfst Hoffnungen hegen. Denn immer deutlicher zeigt es sich, daß wir keine Bildungsanstalten haben, daß wir sie aber haben müssen. Unsere Gymnasien, ihrer Anlage nach zu diesem erhabenen Zwecke prästabiliert, sind entweder zu Pflegestätten einer bedenklichen Kultur geworden, die eine wahre, das heißt eine aristokratische, auf eine weise Auswahl der Geister gestützte Bildung mit tiefem Hasse von sich abwehrt: oder sie ziehen eine mikrologische, dürre oder jedenfalls der Bildung fernbleibende Gelehrsamkeit auf, deren Wert vielleicht gerade darin besteht, wenigstens gegen die Verführungen jener fragwürdigen Kultur Auge und Ohr stumpf zu machen.« Der Philosoph hatte vor allem seinen Begleiter auf die seltsame Entartung aufmerksam gemacht, die in dem Kerne einer Kultur eingetreten sein muß, wenn der Staat glauben darf, sie zu beherrschen, wenn er durch sie Staatsziele erreicht, wenn er, mit ihr verbündet, gegen feindselige andere Mächte ebensowohl als gegen den Geist ankämpft, den der Philosoph den »wahrhaft deutschen« zu nennen wagte. Dieser[229] Geist, durch das edelste Bedürfnis an die Griechen gekettet, in schwerer Vergangenheit als ausdauernd und mutig bewährt, rein und erhaben in seinen Zielen, durch seine Kunst zur höchsten Aufgabe befähigt, den modernen Menschen vom Fluche des Modernen zu erlösen – dieser Geist ist verurteilt, abseits, seinem Erbe entfremdet zu leben: wenn aber seine langsamen Klagelaute durch die Wüste der Gegenwart schallen, dann erschrickt die überhäufte und buntbehängte Bildungskarawane dieser Gegenwart. Nicht nur Erstaunen, sondern Schrecken sollen wir bringen, das war die Meinung des Philosophen, nicht scheu davonzufliehn, sondern anzugreifen war sein Rat: besonders aber redete er seinem Begleiter zu, nicht zu ängstlich und abwägend an das Individuum zu denken, aus dem, durch einen höheren Instinkt, jene Abneigung gegen die jetzige Barbarei hervorströmt. »Mag es zugrunde gehn: der pythische Gott war nicht verlegen darum, einen neuen Dreifuß, eine zweite Pythia zu finden, solange überhaupt der mystische Dampf noch aus der Tiefe quoll.«

Von neuem erhob der Philosoph seine Stimme: »Merkt es wohl, meine Freunde«, sagte er, »zweierlei dürft ihr nicht verwechseln. Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf ums Dasein zu kämpfen: aber alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und tut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegenteil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Not, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit lagert. Es fragt sich nun, wie sehr ein Mensch sein Subjekt neben anderen Subjekten schätzt, wie viel er von seiner Kraft für jenen individuellen Lebenskampf verbraucht. Mancher wird, bei einer stoisch-engen Umschränkung seiner Bedürfnisse, sehr bald und leicht in jene Sphäre sich erheben, in der er sein Subjekt vergessen und gleichsam abschütteln darf, um nun in einem Sonnensystem zeitloser und unpersönlicher Angelegenheiten sich ewiger Jugend zu erfreuen. Ein anderer dehnt die Wirkung und die Bedürfnisse seines Subjekts so in die Breite und baut in einem so erstaunlichen Maße an dem Mausoleum dieses seines Subjekts, als ob er so imstande sei, im Ringkampfe den ungeheuren Gegner, die Zeit, zu überwinden. Auch in einem solchen Triebe zeigt sich ein Verlangen nach Unsterblichkeit: Reichtum und Macht, Klugheit, Geistesgegenwart, Beredsamkeit, ein blühendes Ansehn, ein gewichtiger[230] Name – alles sind hier nur Mittel geworden, mit denen der unersättliche persönliche Lebenswille nach neuem Leben verlangt, mit denen er nach einer, zuletzt illusorischen Ewigkeit lechzt.

Aber selbst in dieser höchsten Form des Subjekts, auch in dem gesteigertsten Bedürfnis eines solchen erweiterten und gleichsam kollektiven Individuums gibt es noch keine Berührung mit der wahren Bildung: und wenn von dieser Seite aus zum Beispiel nach Kunst verlangt wird, so kommen gerade nur die zerstreuenden oder stimulierenden ihrer Wirkungen in Betracht, also diejenigen, welche die reine und erhabene Kunst am wenigsten und die entwürdigte und verunreinigte am besten zu erregen versteht. Denn in seinem gesamten Tun und Treiben, so großartig es sich vielleicht für den Betrachter ausnehmen mag, ist er doch niemals seines begehrenden und rastlosen Subjektes ledig geworden: jener erleuchtete Ätherraum der subjektfreien Kontemplation flieht vor ihm zurück – und darum wird er, er mag lernen, reisen, sammeln, von der wahren Bildung in ewiger Entfernung und verbannt leben müssen. Denn die wahre Bildung verschmäht es, sich mit dem bedürftigen und begehrenden Individuum zu verunreinigen: sie weiß demjenigen, der sich ihrer als eines Mittels zu egoistischen Absichten versichern möchte, weislich zu entschlüpfen: und wenn sie gar einer festzuhalten wähnt, um nun etwa einen Erwerb aus ihr zu machen und seine Lebensnot durch ihre Ausnutzung zu stillen, dann läuft sie plötzlich, mit unhörbaren Schritten und mit der Miene der Verhöhnung fort.

Also, meine Freunde, verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, ätherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch die ›Bildung‹ nennt, aber nur die intellektuelle Dienerin und Beraterin der Lebensnot, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brotgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze. Freilich ist eine solche Anweisung für die allermeisten Menschen von erster und nächster Wichtigkeit: und je schwieriger der Kampf ist, um so mehr muß der junge Mensch lernen, um so angespannter muß er seine Kräfte regen.[231]

Nur aber glaube niemand, daß die Anstalten, die ihn zu diesem Kampfe anspornen und befähigen, irgendwie in ernstem Sinne als Bildungsanstalten in Betracht kommen könnten. Es sind Institutionen zur Überwindung der Lebensnot, mögen sie nun versprechen, Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirte oder Ärzte oder Techniker zu bilden. Für solche Institutionen gelten aber jedenfalls andere Gesetze und Maßstäbe als für die Errichtung einer Bildungsanstalt: und was hier erlaubt, ja so geboten wie möglich ist, dürfte dort ein freventliches Unrecht sein.

Ich will euch, meine Freunde, ein Beispiel geben. Wollt ihr einen jungen Menschen auf den rechten Bildungspfad geleiten, so hütet euch wohl, das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältnis desselben zur Natur zu stören: zu ihm müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfenen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen; so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichnis der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Notwendigkeit sich selbst beruhigen. Aber wie vielen jungen Menschen darf es gestattet sein, so nahe und fast persönlich zur Natur gestellt heranzuwachsen! Die anderen müssen frühzeitig eine andre Wahrheit lernen: wie man die Natur sich unterjocht. Hier ist es mit jener naiven Metaphysik zu Ende: und die Physiologie der Pflanzen und Tiere, die Geologie, die unorganische Chemie zwingt ihre Jünger zu einer ganz veränderten Betrachtung der Natur. Was durch diese neue angezwungene Betrachtungsart verloren gegangen ist, ist nicht etwa eine poetische Phantasmagorie, sondern das instinktive wahre und einzige Verständnis der Natur: an dessen Stelle jetzt ein kluges Berechnen und Überlisten der Natur getreten ist. So ist dem wahrhaft Gebildeten das unschätzbare Gut verliehen, ohne jeden Bruch den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können.[232]

Glaubt also ja nicht, meine Freunde, daß ich unsern Realschulen und höheren Bürgerschulen ihr Lob verkümmern will: ich ehre die Stätten, an denen man ordentlich rechnen lernt, wo man sich der Verkehrssprachen bemächtigt, die Geographie ernst nimmt und sich mit den erstaunlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaft bewaffnet. Ich bin auch gerne bereit zuzugeben, daß die auf den besseren Realschulen unserer Tage Vorbereiteten vollkommen zu den Ansprüchen berechtigt sind, die die fertigen Gymnasiasten zu machen pflegen, und die Zeit ist gewiß nicht mehr fern, wo man derartig Geschulten die Universitäten und die Staatsämter überall ebenso unumschränkt öffnet wie bisher nur den Zöglingen des Gymnasiums – wohlgemerkt den Zöglingen des jetzigen Gymnasiums! Diesen schmerzlichen Nachsatz kann ich aber nicht unterdrücken: wenn es wahr ist, daß Realschule und Gymnasium in ihren gegenwärtigen Zielen im ganzen so einmütig sind und nur in so zarten Linien voneinander abweichen, um auf eine volle Gleichberechtigung vor dem Forum des Staates rechnen zu können – so fehlt uns somit eine Spezies der Erziehungsanstalten vollständig: die Spezies der Bildungsanstalten! Dies ist am wenigsten ein Vorwurf gegen die Realschulen, die viel niedrigere, aber höchst notwendige Tendenzen ebenso glücklich als ehrlich bisher verfolgt haben; aber viel weniger ehrlich geht es in der Sphäre des Gymnasiums zu, auch viel weniger glücklich: denn hier lebt etwas von einem instinktiven Gefühl der Beschämung, von einer unbewußten Erkenntnis, daß das ganze Institut schmählich degradiert sei, und daß den klangvollen Bildungsworten kluger apologetischer Lehrer die barbarisch-öde und sterile Wirklichkeit widerspricht. Also es gibt keine Bildungsanstalten! Und dort, wo man deren Mienen wenigstens noch erheuchelt, ist man hoffnungsloser, abgemagerter und unzufriedener als an den Herden des sogenannten ›Realismus‹! Übrigens, merkt euch, meine Freunde, wie roh und ununterrichtet man in den Lehrerkreisen sein muß, wenn man den strengen philosophischen Terminus ›real‹ und ›Realismus‹ in dem Maße mißverstehn konnte, um dahinter den Gegensatz von Stoff und Geist zu wittern und um den ›Realismus‹ interpretieren zu können als ›die Richtung auf das Erkennen, Gestalten, Beherrschen des Wirklichen‹.

Ich für meinen Teil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der[233] Bildung und Anstalten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.«


Es mögen etwa zwei Stunden vergangen sein, während die beiden philosophischen Genossen sich über so befremdende Dinge unterredeten. Inzwischen war es Nacht geworden: und wenn schon in der Dämmerung die Stimme des Philosophen wie eine Naturmusik in dem waldigen Gehege erklungen war, so brach sich jetzt, in der völligen Schwärze der Nacht, wenn er erregt oder gar leidenschaftlich sprach, der Klang in mannigfaltigem Donnern, Krachen und Zischen an den ins Tal hinab sich verlierenden Baumstämmen und Felsblöcken. Plötzlich wurde er stumm: er hatte soeben, mit fast mitleidiger Wendung wiederholt: »wir haben keine Bildungsanstalten, wir haben keine Bildungsanstalten!« – da fiel etwas, vielleicht ein Tannenzapfen, unmittelbar vor ihm nieder, bellend stürzte der Hund des Philosophen auf dieses Etwas zu – so unterbrochen, hob der Philosoph den Kopf und fühlte mit einem Male die Nacht, die Kühle, die Einsamkeit. »Was machen wir doch!« sagte er zu seinem Begleiter: »es ist ja finster geworden. Du weißt, wen wir hier erwarten: aber er kommt nicht mehr. Wir waren umsonst so lange hier: wir wollen gehen.«


Nun muß ich Sie, meine verehrten Zuhörer, mit den Empfindungen bekannt machen, mit denen ich und mein Freund, von unserem Verstecke aus, dem deutlich wahrnehmbaren und von uns gierig erlauschten Gespräche gefolgt waren. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß wir an jener Stelle und in jener Abendstunde, ein Erinnerungsfest zu feiern uns bewußt waren: diese Erinnerung bezog sich auf nichts anderes als auf Bildungs- und Erziehungsdinge, von denen wir, nach unserem jugendlichen Glauben, eine reiche und glückliche Ernte aus unserem bisherigen Leben heimgebracht hatten. So waren wir denn besonders geneigt, mit Dankbarkeit der Institution zu gedenken, die wir einst an dieser Stelle ausgedacht hatten, um, wie ich schon früher mitteilte, in einem kleinen Kreis von Genossen unsere lebendigen Bildungsregungen gegenseitig anzuspornen und zu überwachen. Plötzlich aber fiel auf jene ganze Vergangenheit ein gänzlich unerwartetes Licht, als wir schweigend und lauschend uns den starken Reden des Philosophen[234] überließen. Wir kamen uns vor wie solche, die mit einem Male in unbewachtem Wandern ihren Fuß an einem Abgrund finden: wir ahnten, den größten Gefahren nicht sowohl entgangen als entgegengelaufen zu sein. Hier, an der für uns so denkwürdigen Stelle, hörten wir den Mahnruf: »Zurück! Keinen Schritt weiter! Wißt ihr, wohin euer Fuß euch trägt, wohin dieser gleißende Weg euch lockt?«

Es schien, daß wir es jetzt wußten, und das Gefühl überströmenden Dankes führte uns so unwiderstehlich dem ersten Warner und treuen Eckart zu, daß wir beide zugleich aufsprangen, um den Philosophen zu umarmen. Dieser war eben im Begriff fortzugehn und hatte sich bereits seitwärts gewendet; als wir so überraschend mit lauten Schritten auf ihn zusprangen, und der Hund mit scharfem Gebell sich uns entgegenwarf, mochte er, samt seinem Begleiter, eher an einen räuberischen Überfall als an eine begeisterte Umarmung denken. Offenbar hatte er uns vergessen. Kurz, er lief davon. Unsere Umarmung mißlang völlig, als wir ihn einholten. Denn mein Freund schrie in dem Augenblicke, weil der Hund ihn gebissen hatte, und der Begleiter sprang mit solcher Wucht auf mich los, daß wir beide umfielen. Es entstand, zwischen Hund und Mensch, eine unheimliche Regsamkeit auf dem Erdboden, die einige Augenblicke andauerte – bis es meinem Freunde gelang, mit starker Stimme und die Worte des Philosophen parodierend, zu rufen: »Im Namen aller Kultur und Pseudokultur! Was will der dumme Hund von uns! Vermaledeiter Hund, weg von hier, du Uneingeweihter, Nie-Einzuweihender, weg von uns und unseren Eingeweiden, gehe schweigend zurück, schweigend und beschämt!« Nach dieser Anrede klärte sich die Szene etwas: soweit sie sich in der völligen Dunkelheit des Waldes klären konnte. »Sie sind es!« rief der Philosoph. »Unsere Pistolenschützen! Wie haben Sie uns erschreckt! Was treibt Sie, so auf mich nächtlicherweile loszustürzen?«

»Freude, Dank, Verehrung treibt uns«, sagten wir, und schüttelten die Hände des Greises, während der Hund ein ahnungsreiches Gebell ausstieß. »Wir wollten Sie nicht fortlassen, ohne Ihnen dies zu sagen. Und um Ihnen alles erklären zu können, dürfen Sie auch noch nicht fortgehen: wir wollen Sie auch um wie vieles! noch fragen, was wir gerade jetzt auf dem Herzen haben. Bleiben Sie doch: jeder[235] Schritt des Wegs ist uns vertraut, wir geleiten Sie nachher hinab. Vielleicht kommt auch der von Ihnen erwartete Gast noch. Sehen Sie einmal dort hinunter auf den Rhein: was schwimmt da so hell, wie unter dem Scheine vieler Fackeln herum? Da suche ich Ihren Freund mitten darin, ja ich ahne bereits, daß er mit allen diesen Fackeln zu Ihnen heraufkommen wird.«

Und so bestürmten wir den verwunderten Greis mit unsern Bitten, unsern Versprechungen, unsern phantastischen Vorspiegelungen, bis endlich auch der Begleiter dem Philosophen zuredete, noch etwas hier auf der Höhe des Bergs, in der milden Nachtluft, auf- und abzugehn, »von allem Wissensqualm entladen«, wie er hinzufügte.

»Ach schämt euch!« sagte der Philosoph, »ihr könnt doch, wenn ihr etwas einmal zitieren wollt, nichts als Faust zitieren. Doch will ich euch nachgeben, mit oder ohne Zitat, wenn nur unsere Jünglinge standhalten und nicht ebenso plötzlich davonlaufen, wie sie gekommen sind: denn sie sind wie Irrlichter, man wundert sich, wenn sie da sind und wieder, wenn sie nicht mehr da sind.«

Hier rezitierte mein Freund sofort:


»Aus Ehrfurcht, hoff ich, soll es uns gelingen,

Das leichte Naturell zu zwingen,

Nur Zickzack geht gewöhnlich unser Lauf.«


Der Philosoph wunderte sich und blieb stehen. »Ihr überrascht mich«, sagte er, »meine Herren Irrlichter: dies ist doch kein Sumpf! Was haben Sie von dieser Stätte? Was bedeutet Ihnen die Nähe eines Philosophen? Da ist die Luft scharf und klar, da ist der Boden trocken und hart. Ihr müßt euch eine phantastischere Region für eure Zickzackneigung aussuchen.«

»Ich denke«, sprach hier der Begleiter dazwischen, »die Herren haben uns bereits gesagt, daß ein Versprechen sie für diese Stunde an diesen Ort bindet: aber wie mich dünkt, haben sie auch, als Chor, unserer Bildungskomödie zugehört und zwar als wahrhaft ›idealische Zuschauer‹ – denn sie haben uns nicht gestört, wir glaubten miteinander allein zu sein.«

»Ja«, sagte der Philosoph, »das ist wahr: dieses Lob darf Ihnen nicht versagt werden, aber es schien mir, daß Sie noch ein größeres verdienten –.«[236]

Hier erfaßte ich die Hand des Philosophen und sagte: »Der muß ja stumpf wie ein Reptil sein, Bauch am Boden, Kopf im Schlamme, der solche Reden, wie die Ihrigen, anhören könnte, ohne ernst und nachdenklich, ja erregt und heiß zu werden. Vielleicht würde der eine oder der andere dabei ergrimmen, aus Verdruß und Selbstanklage; bei uns aber war der Eindruck anders, nur daß ich nicht weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Gerade diese Stunde war für uns so ausgesucht, unsere Stimmung war so vorbereitet, wir saßen da wie offene Gefäße – nun scheint es, daß wir uns mit dieser neuen Weisheit überfüllt haben, denn ich weiß mir gar nicht mehr zu helfen, und wenn mich jemand fragte, was ich am morgenden Tage tun wolle oder was ich überhaupt mir von jetzt ab zu tun vornähme, so würde ich gar nicht zu antworten wissen. Denn offenbar haben wir bis jetzt ganz anders gelebt, ganz anders uns gebildet, als es recht ist – aber was machen wir, um über die Kluft von heute zu morgen hinwegzukommen?«

»Ja«, bestätigte mein Freund, »so geht es auch mir, so frage ich gleichfalls: dann aber ist mir's, als ob ich überhaupt durch so hohe und ideale Ansichten über die Aufgabe der deutschen Bildung von ihr fortgescheucht würde, ja als ob ich nicht würdig sei, an ihrem Werke mitzubauen. Ich sehe nur einen glänzenden Zug der allerreichsten Naturen nach jenem Ziele sich hinbewegen, ich ahne, über welche Abgründe hin, an welchen Verlockungen vorbei dieser Zug führt. Wer darf so kühn sein, diesem Zuge sich zuzugesellen?«

Hier wendete sich auch der Begleiter wieder an den Philosophen und sagte: »Verargen Sie es auch mir nicht, wenn ich etwas Ähnliches empfinde und wenn ich es jetzt vor Ihnen ausspreche. In der Unterredung mit Ihnen geht es mir oft so, daß ich mich über mich selbst hinausgehoben fühle und mich an Ihrem Mute, Ihren Hoffnungen, bis zum Selbstvergessen erwärme. Dann kommt ein kühler Augenblick, irgendein scharfer Wind der Wirklichkeit bringt mich zum Besinnen – und dann sehe ich nur die weit zwischen uns aufgerißne Kluft, über die Sie selbst mich, wie im Traume, wegtrugen. Was Sie Bildung nennen, das schlottert dann um mich herum oder lastet schwer auf meiner Brust, das ist ein Panzerhemd, durch das ich niedergedrückt werde, ein Schwert, das ich nicht schwingen kann.«

Plötzlich waren wir drei, angesichts des Philosophen, einmütig,[237] und uns gegenseitig stimulierend und ermutigend brachten wir etwa Folgendes gemeinschaftlich vor, während wir mit dem Philosophen auf der baumfreien Fläche, die uns an jenem Tage als Schießplatz gedient hatte, langsam auf- und abgingen, in völlig schweigsamer Nacht und unter einem ruhig ausgespannten Sternenhimmel.

»Sie haben so viel vom Genius gesprochen«, sagten wir etwa, »von seiner einsamen beschwerlichen Wanderung durch die Welt, als ob die Natur nur immer die äußersten Gegensätze produziere, einmal die stumpfe schlafende, durch Instinkte fortwuchernde Masse und dann in ungeheurer Entfernung davon, die großen kontemplativen, zu ewigen Schöpfungen ausgerüsteten Einzelnen. Nun aber nennen Sie diese selbst die Spitze der intellektuellen Pyramide: es scheint doch, daß vom breiten schwerbelasteten Fundamente aus bis zu dem frei ragenden Gipfel zahllose Zwischengrade nötig sind, und daß gerade hier der Satz gelten muß: natura non facit saltus. Wo aber beginnt nun das, was Sie Bildung nennen, bei welchen Quadern scheidet sich die Sphäre, die von unten her und die andere, die von oben her beherrscht wird? Und wenn nur bei diesen entlegensten Naturen wahrhaft von Bildung geredet werden darf, wie will man auf das unberechenbare Dasein solcher Naturen Institutionen gründen, wie darf man über Bildungsanstalten nachdenken, die eben nur jenen Auserwählten zugute kämen? Vielmehr dünkt es uns, daß gerade diese ihren Weg zu finden wissen, und daß darin ihre Kraft sich zeigt, ohne solche Bildungskrücken, wie sie jeder andere braucht, gehen zu können und so, ungestört, durch das Drängen und Stoßen der Weltgeschichte hindurchzuschreiten, gleichsam wie ein Gespenst durch eine große dichte Versammlung.«

Derartiges brachten wir miteinander, ohne viel Geschick und Ordnung vor, ja der Begleiter des Philosophen ging noch weiter und sagte zu seinem Lehrer: »Nun denken Sie selbst an alle großen Genien, auf die wir gerade, als auf echte und treue Führer und Wegweiser jenes wahren deutschen Geistesstolz zu sein pflegen, deren Andenken wir durch Feste und Statuen ehren, deren Werke wir mit Selbstgefühl dem Auslande entgegenhalten: worin ist diesen eine solche Bildung, wie Sie sie verlangen, entgegengekommen, inwiefern zeigen sie sich ernährt und gereift an einer heimischen Bildungssonne? Und trotzdem[238] sind sie möglich gewesen, und trotzdem sind sie das geworden, was wir jetzt so zu verehren haben, ja ihre Werke rechtfertigen vielleicht gerade die Form der Entwicklung, die diese edlen Naturen nahmen, ja selbst einen solchen Mangel an Bildung, den wir wohl bei ihrer Zeit und ihrem Volke zugeben müssen. Was hatte Lessing, was hatte Winckelmann aus einer vorhandenen deutschen Bildung zu entnehmen? Nichts oder mindestens ebensowenig als Beethoven, als Schiller, als Goethe, als unsere großen Künstler und Dichter. Vielleicht ist es ein Naturgesetz, daß immer erst die späteren Generationen sich bewußt werden müssen, durch welche himmlischen Geschenke eine frühere ausgezeichnet worden sei.«

Hier geriet der philosophische Greis in heftigen Zorn und schrie seinen Begleiter an: »O du Lamm an Einfalt der Erkenntnis! O ihr insgesamt Säugetiere zu Nennende! Was sind das für schiefe, linkische, enge, höckerige, krüppelhafte Argumentationen! Ja, jetzt eben hörte ich die Bildung unserer Tage, und meine Ohren klingen wieder von lauter geschichtlichen ›Selbstverständlichkeiten‹, von lauter altklugen erbarmungslosen Historiker-Vernünftigkeiten! Merke dir das, du unentweihte Natur: du bist alt geworden und seit Jahrtausenden ruht dieser Sternenhimmel über dir – aber ein solches gebildetes und im Grunde boshaftes Gerede, wie es diese Gegenwart liebt, hast du noch nie gehört! Also ihr seid stolz, meine guten Germanen, auf eure Dichter und Künstler? Ihr zeigt mit den Fingern auf sie und brüstet euch mit ihnen vor dem Auslande? Und weil es euch keine Mühe gekostet hat, sie unter euch zu haben, so macht ihr daraus eine allerliebste Theorie, daß ihr euch auch fürderhin keine Mühe um sie zu geben braucht? Nicht wahr, meine unerfahrenen Kinder, sie kommen von selbst: der Storch bringt sie euch! Wer wird von Hebammen reden mögen! Nun, meine Guten, euch gebührt eine ernste Belehrung: was? ihr dürftet darauf stolz sein, daß alle die genannten glänzenden und edeln Geister durch euch, durch eure Barbarei vorzeitig erstickt, verbraucht, erloschen sind? Wie, ihr dürftet ohne Scham an Lessing denken, der an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zugrunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flugwagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und[239] was empfindet ihr bei Winckelmanns Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befrein, bei den Jesuiten um Hilfe betteln ging, dessen schmählicher Übertritt auf euch zurückfällt und an euch als unvertilgbarer Flecken haften wird? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen und könnt nicht erröten? Seht sein Bild euch an! Das entzündet funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödlich gerötete Wange – das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches und göttliches Spielzeug, das durch euch zertrümmert wurde. Und nehmt noch Goethes Freundschaft aus diesem schwermütig hastigen, zu Tode gehetzten Leben hinweg – an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller verlöschen zu machen. Bei keinem unserer großen Genien habt ihr mitgeholfen – und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß keinem mehr geholfen werde? Aber für jeden waret ihr, bis diesen Augenblick, der ›Widerstand der dumpfen Welt‹, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für jeden waret ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaft Selbstsüchtigen. Trotz euch schufen jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe und dank euch starben sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen zerbrochen oder betäubt, dahin. Wer kann ausdenken, was diesen heroischen Männern zu erreichen beschieden war, wenn jener wahre deutsche Geist in einer kräftigen Institution sein schützendes Dach über sie ausgebreitet hätte, jener Geist, der ohne eine solche Institution vereinzelt, zerbröckelt, entartet sein Dasein weiterschleppt. Alle jene Männer sind zugrunde gerichtet: und es gehört ein tollgewordener Glaube an die Vernünftigkeit alles Geschehenden dazu, um mit ihm eure Schuld entschuldigen zu wollen. Und nicht jene Männer allein! Aus allen Bereichen intellektueller Auszeichnung treten die Ankläger gegen euch auf: mag ich auf alle die dichterischen oder philosophischen oder malerischen oder plastischen Begabungen hinsehn und nicht nur auf die Begabungen des höchsten Grades, überall bemerke ich das nicht Reifgewordene, das Überreizte oder zu früh Erschlaffte, das vor der Blüte Versengte oder Erfrorene, überall wittere ich jenen ›Widerstand der stumpfen Welt‹, das heißt eure Verschuldung. Das will es besagen, wenn ich nach Bildungsanstalten verlange und den Zustand derer, die sich so nennen, erbarmungswürdig finde.[240]

Wer dies ein ›ideales Verlangen‹ und überhaupt ›ideal‹ zu nennen beliebt und wohl gar damit wie mit einem Lobe mich abzufinden meint, dem diene zur Antwort, daß das Vorhandene einfach eine Gemeinheit und eine Schmach ist, und daß, wer in klapperdürrem Frost nach Wärme verlangt, wild werden muß, wenn man dies ein ›ideales Verlangen‹ nennt. Hier handelt es sich um lauter aufdringliche, gegenwärtige, augenscheinliche Wirklichkeiten: wer etwas davon fühlt, der weiß, daß es hier eine Not gibt, wie Frost und Hunger. Wer aber nichts davon fühlt – nun, der hat dann wenigstens einen Maßstab, um zu messen, wo das aufhört, was ich ›Bildung‹ nenne, und bei welchen Quadern der Pyramide sich die Sphäre, die von unten, und die andere, die von oben beherrscht wird, scheidet.«

Der Philosoph schien sich sehr erhitzt zu haben: wir forderten ihn auf, wieder etwas herumzugehn, während er seine letzten Reden stehend, in der Nähe jenes Baumstumpfes, der uns als Zielscheibe für unsere Pistolenkünste diente, gesprochen hatte. Es wurde für eine Zeit unter uns ganz still. Langsam und nachdenklich schritten wir auf und ab. Wir empfanden viel weniger Beschämung, so törichte Argumente vorgebracht zu haben, als eine gewisse Restitution unserer Persönlichkeit: gerade nach den erhitzten und für uns nicht schmeichelhaften Anreden glaubten wir uns dem Philosophen näher, ja persönlicher gestellt zu fühlen. Denn so elend ist der Mensch, daß er durch nichts einem Fremden so schnell nahe kommt, als wenn dieser eine Schwäche, einen Defekt merken läßt. Daß unser Philosoph erhitzt wurde und Schimpfworte gebrauchte, überbrückte etwas die bisher allein empfundene scheue Ehrerbietung; für den, der eine solche Beobachtung empörend findet, sei hinzugesetzt, daß diese Brücke oftmals von der entfernten Verehrung zur persönlichen Liebe und zum Mitleiden führt. Und dieses Mitleiden trat, nach jenem Gefühl der Restitution unserer Persönlichkeit, allmählich immer stärker hervor. Wozu führten wir den alten Mann hier nächtlicherweile zwischen Baum und Fels herum? Und da er dies uns nachgegeben hatte, warum fanden wir nicht eine ruhigere und bescheidenere Form, uns belehren zu lassen, warum mußten wir zu drei in so ungeschickter Weise unsern Widerspruch äußern?

Denn jetzt merkten wir es bereits, wie unbedacht, unvorbereitet und[241] unerfahren unsere Einwendungen waren, wie sehr gerade in ihnen das Echo der Gegenwart widerklang, deren Stimme der Alte nun einmal im Bereiche der Bildung nicht hören mochte. Unsere Einwendungen waren überdies nicht eigentlich rein aus dem Intellekte entsprungen: der Grund, der durch die Reden des Philosophen erregt und zum Widerstand gereizt war, schien anderswo zu liegen. Vielleicht sprach aus uns nur die instinktive Angst, ob gerade unsere Individuen bei solchen Ansichten, wie sie der Philosoph hatte, vorteilhaft bedacht seien, vielleicht drängten sich alle jene früheren Einbildungen, die wir uns über unsere eigene Bildung gemacht hatten, jetzt zu der Not zusammen, um jeden Preis Gründe gegen eine Betrachtungsart zu finden, durch die allerdings unser vermeintlicher Anspruch auf Bildung recht gründlich abgewiesen wurde. Mit Gegnern aber, die so persönlich die Wucht einer Argumentation empfinden, soll man nicht streiten; oder wie die Moral für unsern Fall lauten würde: solche Gegner sollen nicht streiten, sollen nicht widersprechen.

So gingen wir neben dem Philosophen her, beschämt, mitleidig, unzufrieden mit uns und mehr als je überzeugt, daß der Greis recht haben müsse, und daß wir ihm Unrecht getan hätten. Wie weit zurück lag jetzt der Jugendtraum unserer Bildungsanstalt, wie deutlich erkannten wir die Gefahr, an der wir bisher nur durch einen Zufall vorbeigeschlüpft waren, uns nämlich mit Haut und Haar dem Bildungswesen zu verkaufen, das von jenen Knabenjahren an, bereits aus unserm Gymnasium heraus, verlockend zu uns gesprochen hatte! Worin lag es doch, daß wir noch nicht im öffentlichen Chorus seiner Bewunderer standen? Vielleicht nur darin, daß wir noch wirklich Studenten waren, daß wir uns noch, aus dem gierigen Haschen und Drängen, aus dem rastlosen und sich überstürzenden Wellenschlag der Öffentlichkeit, auf jene bald nun auch weggeschwemmte Insel zurückziehn konnten!

Von derartigen Gedanken überwältigt waren wir im Begriff, den Philosophen anzureden, als er sich plötzlich gegen uns wendete und mit milderer Stimme begann: »Ich darf mich nicht wundern, wenn ihr euch jugendlich, unvorsichtig und voreilig benahmt. Denn schwerlich hattet ihr über das, was ihr von mir hörtet, schon jemals ernsthaft nachgedacht. Laßt euch Zeit, tragt es mit euch herum, aber denkt[242] daran Tag und Nacht. Denn jetzt seid ihr an den Kreuzweg gestellt, jetzt wißt ihr, wohin die beiden Wege führen. Auf dem einen wandelnd, seid ihr eurer Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Siegeszeichen nicht fehlen lassen: ungeheure Parteien werden euch tragen, hinter eurem Rücken werden ebensoviel Gleichgesinnte wie vor euch stehen. Und wenn der Vordermann ein Losungswort ausspricht, so hallt es in allen Richtungen wider. Hier heißt die erste Pflicht; in Reih und Glied kämpfen, die zweite: alle die zu vernichten, die sich nicht in Reih und Glied stellen wollen. Der andre Weg führt euch mit selteneren Wandergenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener und steiler: die, welche auf dem ersten gehen, verspotten euch, weil ihr dort mühsamer schreitet, sie versuchen es auch wohl, euch zu sich hinüberzulocken. Wenn aber einmal beide Wege sich kreuzen, so werdet ihr mißhandelt, beiseite gedrängt, oder man weicht euch scheu aus und isoliert euch.

Was würde nun, für die so verschiedenartigen Wanderer beider Wege, eine Bildungsanstalt zu bedeuten haben? Jener ungeheure Schwarm, der sich auf dem ersten Wege zu seinen Zielen drängt, versteht darunter eine Institution, wodurch er selbst in Reih und Glied aufgestellt wird und von der alles abgeschieden und losgelöst wird, was etwa nach höheren und entlegeneren Zielen hinstrebt. Freilich verstehen sie es, prunkende Worte für ihre Tendenzen in Umlauf zu bringen: sie reden zum Beispiel von der ›allseitigen Entwicklung der freien Persönlichkeit innerhalb fester gemeinsamer nationaler und menschlich-sittlicher Überzeugungen‹, oder nennen als ihr Ziel ›die Begründung des auf Vernunft, Bildung, Gerechtigkeit ruhenden Volksstaates‹.

Für die andere kleinere Schar ist eine Bildungsanstalt etwas durchaus Verschiedenes. Diese will, an der Schutzwehr einer festen Organisation, verhüten, daß sie selbst, durch jenen Schwarm, weggeschwemmt und auseinandergetrieben werde, daß ihre Einzelnen in frühzeitiger Ermattung oder abgelenkt, entartet, zerstört, ihre edele und erhabene Aufgabe aus dem Auge verlieren. Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden, das ist der Sinn ihrer gemeinschaftlichen Institution – und zwar ein Werk, das gleichsam von den Spuren des Subjekts gereinigt und über das Wechselspiel der Zeiten hinausgetragen[243] sein soll, als lautere Widerspiegelung des ewigen und unveränderlichen Wesens der Dinge. Und alle, die an jenem Institute teilhaben, sollen auch mit bemüht sein, durch eine solche Reinigung vom Subjekt, die Geburt des Genius und die Erzeugung seines Werkes vorzubereiten. Nicht wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu einem solchen Mithelfen bestimmt und kommen nur im Dienste einer solchen wahren Bildungs-Institution zu dem Gefühl, ihrer Pflicht zu leben. Jetzt aber werden gerade diese Begabungen von den unausgesetzten Verführungskünsten jener modischen ›Kultur‹ aus ihrer Bahn abgelenkt und ihrem Instinkte entfremdet.

An ihre egoistische Regungen, an ihre Schwächen und Eitelkeiten richtet sich diese Versuchung, ihnen gerade flüstert jener Zeitgeist zu: ›Folgt mir! Dort seid ihr Diener, Gehilfen, Werkzeuge, von höheren Naturen überstrahlt, eurer Eigenart niemals froh, an Fäden gezogen, an Ketten gelegt, als Sklaven, ja als Automaten: hier, bei mir, genießt ihr als Herrn eure freie Persönlichkeit, eure Begabungen dürfen für sich glänzen, mit ihnen werdet ihr selbst an der ersten Stelle stehn, ungeheures Gefolge wird euch begleiten, und der Zuruf der öffentlichen Meinung wird euch mehr behagen, als eine vornehm gespendete Belobigung aus der Höhe des Genius.‹ Solchen Verlockungen unterliegen jetzt die allerbesten: und im Grunde entscheidet wohl hier kaum der Grad der Begabung, ob man für derartige Stimmen zugänglich ist oder nicht, sondern die Höhe und der Grad einer gewissen sittlichen Erhabenheit, der Instinkt zum Heroismus, zur Aufopferung – und endlich ein sicheres, zur Sitte gewordenes, durch richtige Erziehung eingeleitetes Bedürfnis der Bildung: als welche, wie ich schon sagte, vor allem Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius ist. Gerade aber von einer solchen Zucht, einer solchen Gewöhnung wissen die Institute, die man jetzt ›Bildungsanstalten‹ nennt, so viel wie nichts: obwohl es mir nicht zweifelhaft ist, daß das Gymnasium ursprünglich als eine derartige wahre Bildungsinstitution, wenigstens als vorbereitende Veranstaltung, gemeint war und in den wunderbaren, tiefsinnig erregten Zeiten der Reformation die ersten kühnen Schritte auf einer solchen Bahn wirklich getan hat, ebenfalls, daß sich in der Zeit unseres Schiller, unseres Goethe wieder etwas von jenem schmählich abgeleiteten oder sekretierten Bedürfnisse merken ließ, gleichsam[244] als ein Keim jener Schwinge, von der Plato im Phädrus redet und welche die Seele, bei jeder Berührung mit dem Schönen, beflügelt und emporträgt – nach dem Reiche der unwandelbaren reinen eingestalten Urbilder der Dinge.«

»Ach, mein verehrter und ausgezeichneter Lehrer«, begann jetzt der Begleiter, »nachdem Sie den göttlichen Plato und die Ideenwelt zitiert haben, glaube ich nicht mehr daran, daß Sie mir zürnen, so sehr ich auch durch meine vorige Rede Ihre Mißbilligung und Ihren Zorn verdient habe. Sobald Sie reden, regt sich bei mir jene platonische Schwinge; und nur in den Zwischenpausen habe ich, als Wagenlenker meiner Seele, mit dem widerstrebenden, wilden und ungebärdigen Rosse rechte Mühe, das Plato auch beschrieben hat und von dem er sagt, es sei schief und ungeschlacht, mit starrem Nacken, kurzem Hals und platter Nase, schwarzgefärbt, grauen blutunterlaufenen Auges, an den Ohren struppicht und schwerhörig, zu Frevel und Untat allezeit bereit und kaum durch Geißel und Stachelstab lenkbar. Denken Sie sodann daran, wie lange ich von Ihnen entfernt gelebt habe und wie gerade auch an mir alle jene Verführungskünste sich erproben konnten, von denen Sie redeten, vielleicht doch nicht ohne einigen Erfolg, wenn auch fast unbemerkt von mir selber. Ich begreife gerade jetzt stärker als je, wie notwendig eine Institution ist, welche es uns ermöglicht, mit den seltenen Männern wahrer Bildung zusammenzuleben, um an ihnen Führer und Leitsterne zu haben. Wie stark empfinde ich die Gefahr des einsamen Wanderns! Und wenn ich, wie ich Ihnen sagte, aus dem Gewühl und der direkten Berührung mit dem Zeitgeiste mich durch Flucht zu retten wähnte, so war selbst diese Flucht eine Täuschung. Fortwährend, aus unzähligen Adern, mit jedem Atemzuge quillt jene Atmosphäre in uns hinein, und keine Einsamkeit ist einsam und ferne genug, wo sie uns nicht, mit ihren Nebeln und Wolken, zu erreichen wüßte. Als Zweifel, als Gewinn, als Hoffnung und Tugend verkleidet, in der wechselreichsten Maskentracht umschleichen uns die Bilder jener Kultur: und selbst hier in Ihrer Nähe, das heißt gleichsam an der Hand eines wahren Bildungseremiten wußte uns jene Gaukelei zu verführen. Wie beständig und treu muß jene kleine Schar einer fast sektiererisch zu nennenden Bildung unter sich wachen! Wie sich gegenseitig stärken! Wie streng muß[245] hier der Fehltritt gerügt, wie mitleidig verziehn werden! So verzeihen Sie nun auch mir, mein Lehrer, nachdem Sie mich so ernst zurechtgewiesen haben!«

»Du führst eine Sprache, mein Guter«, sagte der Philosoph, »die ich nicht mag, und die an religiöse Konventikel erinnert. Damit habe ich nichts zu tun. Aber dein platonisches Pferd hat mir gefallen, seinetwegen soll dir auch verziehen sein. Gegen dieses Pferd tausche ich mein Säugetier ein. Übrigens habe ich wenig Lust, mit euch hier im Kühlen noch ferner herumzugehn. Mein von mir erwarteter Freund ist zwar toll genug, auch wohl um Mitternacht noch hier hinaufzukommen, wenn er es einmal versprochen hat. Aber ich warte vergebens auf das zwischen uns verabredete Zeichen: mir bleibt es unverständlich, was ihn bis jetzt abgehalten hat. Denn er ist pünktlich und genau, wie wir Alten zu sein pflegen und wie es die Jugend jetzt für altväterisch hält. Diesmal läßt er mich im Stich: es ist verdrießlich! Nun folgt mir nur! Es ist Zeit zu gehen!«

– In diesem Augenblicke zeigte sich etwas Neues. –[246]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 229-247.
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