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[388] Und das war ein Grieche, dessen Blüte ungefähr dem Ausbruche der ionischen Revolution gleichzeitig ist. Einem Griechen war es damals möglich, aus der überreichen Wirklichkeit wie aus einem bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten – nicht etwa, wie Plato, in das Land der ewigen Ideen, in die Werkstätte des[388] Weltenbildners, um unter den makellosen unzerbrechlichen Urformen der Dinge das Auge zu weiden –, sondern in die starre Todesruhe des kältesten, nichtssagenden Begriffs, des Seins. Wir wollen uns ja davor hüten, eine solche merkwürdige Tatsache nach falschen Analogien zu deuten. Jene Flucht war nicht eine Weltflucht im Sinne indischer Philosophen, zu ihr forderte nicht die tiefe religiöse Überzeugung von der Verderbtheit, Vergänglichkeit und Unseligkeit des Daseins auf, jenes letzte Ziel, die Ruhe im Sein, wurde nicht erstrebt als das mystische Versenktsein in eine allgenügende entzückende Vorstellung, die dem gemeinen Menschen ein Rätsel und ein Ärgernis ist. Das Denken des Parmenides trägt gar nichts von dem berauschenden dunklen Duft des Indischen an sich, der vielleicht an Pythagoras und Empedokles nicht gänzlich unwahrnehmbar ist: das Wunderliche an jener Tatsache um diese Zeit ist vielmehr gerade das Duftlose, Farblose, Seelenlose, Ungeformte, der gänzliche Mangel an Blut, Religiosität und ethischer Wärme, das Abstrakt-Schematische – bei einem Griechen! – vor allem aber die furchtbare Energie des Strebens nach Gewißheit in einem mythisch denkenden und höchst beweglich-phantastischen Zeitalter. »Nur eine Gewißheit gewährt mir, ihr Götter!« ist das Gebet des Parmenides, »und sei sie auf dem Meere des Ungewissen nur ein Brett, breit genug, um darauf zu liegen! Alles Werdende, Üppige, Bunte, Blühende, Täuschende, Reizende, Lebendige, alles dies nehmt nur für euch: und gebt mir nur die einzige arme leere Gewißheit!«

In der Philosophie des Parmenides präludiert das Thema der Ontologie. Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existieren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntnis haben, das ins Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist. Der Stoff unseres Denkens ist nach Parmenides gar nicht in der Anschauung vorhanden, sondern wird anderswoher hinzugebracht, aus einer außersinnlichen Welt, zu der wir durch das Denken einen direkten Zugang haben. Nun hat Aristoteles gegen alle ähnlichen Schlußverfahren bereits geltend gemacht, daß die Existenz nie zur Essenz, das Dasein nie zum Wesen des Dinges gehöre. Gerade deshalb ist aus dem Begriffe »Sein« – dessen essentia[389] eben nur das Sein ist – gar nicht auf eine existentia des Seins zu schließen. Die logische Wahrheit jenes Gegensatzes »Sein« und »Nichtsein« ist vollkommen leer, wenn nicht der zugrunde liegende Gegenstand, wenn nicht die Anschauung gegeben werden kann, aus der dieser Gegensatz durch Abstraktion abgeleitet ist, sie ist, ohne dies Zurückgehn auf die Anschauung, nur ein Spiel mit Vorstellungen, durch das in der Tat gar nichts erkannt wird. Denn das bloß logische Kriterium der Wahrheit, wie Kant lehrt, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft, ist zwar die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt betrifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken. Sobald man aber den Inhalt für die logische Wahrheit des Gegensatzes »das was ist, ist; das was nicht ist, ist nicht!« sucht, so findet man in der Tat keine einzige Wirklichkeit, die nach jenem Gegensatz streng geartet wäre; ich kann von einem Baume sowohl sagen »er ist«, im Vergleiche mit allen übrigen Dingen, als »er wird«, im Vergleich zu ihm selbst in einem anderen Zeitmomente, als endlich auch »er ist nicht«, zum Beispiel »er ist noch nicht Baum«, solange ich etwa den Strauch betrachte. Die Worte sind nur Symbole für die Relationen der Dinge untereinander und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit: und gar das Wort »Sein« bezeichnet nur die allgemeinste Relation, die alle Dinge verknüpft, ebenso wie das Wort »Nichtsein«. Ist aber die Existenz der Dinge selbst nicht nachzuweisen, so wird die Relation der Dinge untereinander, das sogenannte »Sein« und »Nichtsein«, uns auch keinen Schritt dem Lande der Wahrheit näherbringen können. Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen, etwa in irgendeinen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen, und selbst in den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes, in Raum, Zeit und Kausalität gewinnen wir nichts, was einer veritas aeterna ähnlich sähe. Es ist unbedingt für das Subjekt unmöglich, über sich selbst hinaus etwas sehen und erkennen zu wollen, so unmöglich, daß Erkennen und Sein die sich widersprechendsten aller Sphären sind. Und wenn Parmenides in der unbelehrten Naivität der damaligen Kritik des Intellekts wähnen[390] durfte, aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-Sein zu kommen, so ist es heute, nach Kant, eine kecke Ignoranz, wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der Philosophie hingestellt wird, das »Absolute mit dem Bewußtsein zu erfassen«, etwa gar in der Form: »Das Absolute ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden?«, wie Hegel sich ausgedrückt hat, oder mit der Wendung des Beneke, »daß das Sein irgendwie gegeben, irgendwie für uns erreichbar sein müsse, da wir sonst nicht einmal den Begriff des Seins haben könnten«. Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur »atmen«: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst atmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Atmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des eignen Daseins, also anthropomorphisch und jedenfalls durch eine unlogische Übertragung, vorstellt. Selbst für den Menschen, also abgesehn von jener Übertragung, ist aber der Satz »ich atme, also gibt es ein Sein« gänzlich unzureichend: als gegen welchen derselbe Einwand wie gegen das ambulo, ergo sum oder ergo est gemacht werden muß.


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Der andre Begriff, von größerem Gehalte als der des Seienden und gleichfalls bereits von Parmenides erfunden, wenngleich noch nicht so geschickt verwendet wie von seinem Schüler Zeno, ist der des Unendlichen. Es kann nichts Unendliches existieren: denn bei einer solchen Annahme würde sich der widerspruchsvolle Begriff einer vollendeten Unendlichkeit ergeben. Da nun unsre Wirklichkeit, unsere vorhandene Welt überall den Charakter jener vollendeten Unendlichkeit trägt, so bedeutet sie ihrem Wesen nach einen Widerspruch gegen das Logische und somit auch gegen das Reale und ist Täuschung, Lüge, Phantasma. Zeno bediente sich besonders der indirekten Beweismethode:[391] er sagte zum Beispiel: »Es kann keine Bewegung von einem Orte zum andern geben: denn wenn es eine solche gäbe, so wäre eine Unendlichkeit vollendet gegeben: dies ist aber eine Unmöglichkeit.« Achill kann die Schildkröte, die einen kleinen Vorsprung hat, im Wettlauf nicht einholen; denn um nur den Punkt, von dem die Schildkröte aus läuft, zu erreichen, müßte er bereits zahllose, unendlich viele Räume durchlaufen haben, nämlich zuerst die Hälfte jenes Raumes, dann das Viertel, dann das Achtel, dann das Sechzehntel und so weiter in infinitum. Wenn er tatsächlich die Schildkröte einholt, so ist dies ein unlogisches Phänomen, also jedenfalls keine Wahrheit, keine Realität, kein wahres Sein, sondern nur eine Täuschung. Denn nie ist es möglich, das Unendliche zu beendigen. Ein andres populäres Ausdrucksmittel dieser Lehre ist der fliegende und doch ruhende Pfeil. In jedem Augenblick seines Fluges hat er eine Lage: in dieser Lage ruht er. Wäre jetzt die Summe der unendlichen Lagen der Ruhe identisch mit Bewegung? Wäre jetzt das Ruhen, unendlich wiederholt, Bewegung, also sein eigner Gegensatz? Das Unendliche wird hier als Scheidewasser der Wirklichkeit benutzt, an ihm löst sie sich auf. Wenn aber die Begriffe fest, ewig und seiend sind – und Sein und Denken fällt für Parmenides zusammen –, wenn also das Unendliche nie vollendet sein kann, wenn Ruhe nie Bewegung werden kann, so ist der Pfeil in Wahrheit gar nicht geflogen: er kam gar nicht von der Stelle und aus der Ruhe, kein Zeitmoment ist vergangen. Oder anders ausgedrückt: es gibt in dieser sogenannten, doch nur angeblichen Wirklichkeit weder Zeit noch Raum noch Bewegung. Zuletzt ist der Pfeil selbst nur eine Täuschung: denn er stammt aus der Vielheit, aus der durch die Sinne erzeugten Phantasmagorie des Nicht-Einen. Angenommen, der Pfeil hätte ein Sein, dann wäre er unbeweglich, zeitlos, ungeworden, starr und ewig – eine unmögliche Vorstellung! Angenommen, die Bewegung wäre wahrhaft real, so gäbe es keine Ruhe, also keine Lage für den Pfeil, also keinen Raum – eine unmögliche Vorstellung! Angenommen, daß die Zeit real sei, so könnte sie nicht unendlich teilbar sein; die Zeit, die der Pfeil brauchte, müßte aus einer begrenzten Anzahl von Zeitmomenten bestehen, jeder dieser Momente müßte ein Atomon sein – eine unmögliche Vorstellung! Alle unsre Vorstellungen, sobald ihr empirisch gegebner, aus[392] dieser anschaulichen Welt geschöpfter Inhalt als veritas aeterna genommen wird, führen auf Widersprüche. Gibt es absolute Bewegung, so gibt es keinen Raum: gibt es absoluten Raum, so gibt es keine Bewegung; gibt es ein absolutes Sein, so gibt es keine Vielheit. Gibt es eine absolute Vielheit, so gibt es keine Einheit. Da sollte einem doch klarwerden, wie wenig wir mit solchen Begriffen das Herz der Dinge berühren oder den Knoten der Realität aufknüpfen: während Parmenides und Zeno umgekehrt an der Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die anschauliche Welt als das Gegenstück der wahren und allgültigen Begriffe als eine Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen verwerfen. Sie gehen bei allen ihren Beweisen von der gänzlich unbeweisbaren, ja unwahrscheinlichen Voraussetzung aus, daß wir in jenem Begriffsvermögen das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegenteil, besitzen: jene Begriffe sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und korrigieren, wie sie doch aus ihr tatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen im Gegenteil die Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines Widerspruchs mit dem Logischen, sogar verdammen. Um ihnen diese richterlichen Befugnisse einräumen zu können, mußte Parmenides ihnen dasselbe Sein zuschreiben, das er überhaupt allein als Sein gelten ließ: Denken und jener eine ungewordene vollkommne Ball des Seienden waren jetzt nicht mehr als zwei verschiedne Arten des Seins zu fassen, da es keine Zweiheit des Seins geben durfte. So war der überverwegene Einfall notwendig geworden, Denken und Sein für identisch zu erklären; keine Form der Anschaulichkeit, kein Symbol, kein Gleichnis konnte hier zu Hilfe kommen; der Einfall war völlig unvorstellbar, aber er war notwendig, ja er feierte in dem Mangel an jeder Versinnlichungs-Möglichkeit den höchsten Triumph über die Welt und die Forderungen der Sinne. Das Denken und jenes knollig–kugelrunde, durch und durch tot-massive und starr-unbewegliche Sein müssen nach dem parmenideischen Imperativ zum Schrecken aller Phantasie in eins zusammenfallen und ganz und gar dasselbe sein. Mag diese Identität den Sinnen widersprechen! Gerade dies ist die Bürgschaft, daß sie nicht von den Sinnen entlehnt ist.


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[393] Übrigens ließ sich gegen Parmenides auch ein kräftiges Paar von argumenta ad hominem oder ex concessis vorführen, durch welche zwar nicht die Wahrheit selbst ans Licht gebracht werden konnte, aber doch die Unwahrheit jener absoluten Trennung von Sinnenwelt und Begriffswelt und der Identität von Sein und Denken. Einmal: wenn das Denken da Vernunft in Begriffen real ist, so muß auch die Vielheit und die Bewegung Realität haben, denn das vernünftige Denken ist bewegt, und zwar ist dies eine Bewegung von Begriff zu Begriff, also innerhalb einer Mehrheit von Realitäten. Dagegen gibt es keine Ausflucht, es ist ganz unmöglich, das Denken als ein starres Verharren, als ein ewig unbewegtes Sich-selbst-Denken der Einheit zu bezeichnen. Zweitens: wenn von den Sinnen nur Trug und Schein kommt und es in Wahrheit nur die reale Identität von Sein und Denken gibt, was sind dann die Sinne selbst? Jedenfalls doch auch nur Schein: da sie mit dem Denken, und ihr Produkt, die Sinnenwelt, mit dem Schein nicht zusammenfällt. Wenn aber die Sinne selbst Schein sind, wem sind sie dann Schein? Wie können sie, als unreal, doch noch täuschen? Das Nichtseiende kann nicht einmal betrügen. Es bleibt also das Woher der Täuschung und des Scheins ein Rätsel, ja ein Widerspruch. Wir nennen diese argumenta ad hominem den Einwand von der bewegten Vernunft und den von dem Ursprung des Scheins. Aus dem ersten würde die Realität der Bewegung und der Vielheit, aus dem zweiten die Unmöglichkeit des parmenideischen Scheines folgen; vorausgesetzt, daß die Hauptlehre des Parmenides über das Sein als begründet angenommen ist. Diese Hauptlehre aber heißt nur: das Seiende allein hat ein Sein, das Nichtseiende ist nicht. Ist die Bewegung aber ein solches Sein, so gilt von ihr, was von dem Seienden überhaupt und in jedem Falle gilt: sie ist ungeworden, ewig, unzerstörbar, ohne Zunahme und Abnahme. Wird aber der Schein aus dieser Welt weggeleugnet mit Hilfe jener Frage nach dem Woher des Scheins, wird die Bühne des sogenannten Werdens, der Veränderung, unser vielgestaltetes, rastloses, buntes und reiches Dasein, vor der parmenideischen Verwerfung geschützt, so ist es nötig, diese Welt des Wechsels und der Veränderung als eine Summe von solchen wahrhaft[394] seienden, in alle Ewigkeit zugleich existierenden Wesenheiten zu charakterisieren. Von einer Veränderung in strengem Sinne, von einem Werden, ist natürlich auch bei dieser Annahme durchaus nicht zu reden. Aber jetzt hat die Vielheit ein wahres Sein, alle Qualitäten haben ein wahres Sein, die Bewegung nicht minder: und von jedem Moment dieser Welt, ob auch diese beliebig gewählten Momente um Jahrtausende auseinanderliegen, müßte gesagt werden können: alle in ihr vorhandenen wahren Wesenheiten sind samt und sonders zugleich da, unverändert, unvermindert, ohne Zuwachs, ohne Abnahme. Ein Jahrtausend später ist sie eben dieselbe, nichts hat sich verwandelt. Sieht trotzdem die Welt das eine Mal ganz anders aus als das andre Mal, so ist dies keine Täuschung, nichts nur Scheinbares, sondern Folge der ewigen Bewegung. Das wahrhaft Seiende ist bald so, bald so bewegt, aneinander auseinander, nach oben nach unten, ineinander durcheinander.


14

Mit dieser Vorstellung haben wir bereits einen Schritt in den Bezirk der Lehre des Anaxagoras getan. Von ihm werden beide Einwände, der vom bewegten Denken und der von dem Woher des Scheins, in voller Kraft gegen Parmenides erhoben: aber in dem Hauptsatze hat Parmenides ihn sowie alle jüngeren Philosophen und Naturforscher unterjocht. Sie alle leugnen die Möglichkeit des Werdens und Vergehens, wie es sich der Sinn des Volks denkt und wie es Anaximander und Heraklit mit tieferer Besonnenheit, und doch noch unbesonnen, angenommen hatten. Ein solches mythologisches Entstehen aus dem Nichts, Verschwinden in das Nichts, eine solche willkürliche Veränderung des Nichts in das Etwas, ein solches beliebiges Vertauschen, Ausziehen und Anziehen der Qualitäten galt von nun an als sinnlos: aber ebenfalls und aus den gleichen Gründen ein Entstehen des Vielen aus dem Einen, der mannigfachen Qualitäten aus der einen Urqualität, kurz die Ableitung der Welt aus einem Urstoffe, in der Manier des Thales oder des Heraklit. Jetzt war vielmehr das eigentliche Problem aufgestellt, die Lehre vom ungewordnen und unvergänglichen Sein auf diese vorhandene Welt zu übertragen, ohne zur Theorie des Scheins und der Täuschung durch die Sinne eine Zuflucht zu nehmen. Wenn[395] die empirische Welt aber nicht Schein sein soll, wenn die Dinge nicht aus dem Nichts und ebensowenig aus dem einen Etwas abzuleiten sind, so müssen diese Dinge selbst ein wahrhaftes Sein enthalten, ihr Stoff und Inhalt muß unbedingt real sein, und alle Veränderung kann sich nur auf die Form, das heißt auf die Stellung, Ordnung, Gruppierung, Mischung, Entmischung dieser ewigen zugleich existierenden Wesenheiten beziehn. Es ist dann wie beim Würfelspiel: immer sind es dieselben Würfel, aber bald so bald so fallend bedeuten sie für uns etwas anderes. Alle älteren Theorien waren auf ein Urelement, als Schoß und Ursache des Werdens, zurückgegangen, sei dies nun Wasser, Luft, Feuer oder das Unbestimmte des Anaximander. Dagegen behauptet nun Anaxagoras, daß aus dem Gleichen nie das Ungleiche hervorgehen könne und daß aus dem einen Seienden die Veränderung nie zu erklären sei. Ob man sich jenen einen angenommenen Stoff nun verdünnt oder verdichtet denke, niemals erreiche man durch eine solche Verdichtung oder Verdünnung das, was man zu erklären wünsche: die Vielheit der Qualitäten. Wenn aber die Welt tatsächlich voll der verschiedensten Qualitäten ist, so müssen diese, falls sie nicht Schein sind, ein Sein haben, das heißt ewig ungeworden, unvergänglich und immer zugleich existierend sein. Schein aber können sie nicht sein, da die Frage nach dem Woher des Scheins unbeantwortet bleibt, ja sich selbst mit Nein beantwortet. Die älteren Forscher hatten das Problem des Werdens dadurch vereinfachen wollen, daß sie nur eine Substanz aufstellten, die die Möglichkeiten alles Werdens im Schoße trage; jetzt wird im Gegenteil gesagt: es gibt zahllose Substanzen, aber nie mehr, nie weniger, nie neue. Nur die Bewegung würfelt sie immer neu durcheinander: daß aber die Bewegung eine Wahrheit und nicht ein Schein sei, bewies Anaxagoras aus der unbestreitbaren Sukzession unserer Vorstellungen im Denken gegen Parmenides. Wir haben also auf die unmittelbarste Weise die Einsicht in die Wahrheit der Bewegung und der Sukzession darin, daß wir denken und Vorstellungen haben. Also ist jedenfalls das starre, ruhende, tote eine Sein des Parmenides aus dem Wege geschafft, es gibt viele Seiende, ebenso sicher, als alle diese vielen Seienden (Existenzen, Substanzen) in Bewegung sind. Veränderung ist Bewegung – aber woher stammt die Bewegung? Läßt vielleicht diese Bewegung das eigentliche Wesen jener vielen unabhängigen[396] isolierten Substanzen gänzlich unberührt und muß sie nicht nach dem strengsten Begriff des Seienden ihnen an sich fremd sein? Oder gehört sie trotzdem den Dingen selbst an? Wir stehen an einer wichtigen Entscheidung: je nachdem wir uns wenden, werden wir auf das Gebiet des Anaxagoras oder des Empedokles oder des Demokrit treten. Die bedenkliche Frage muß aufgestellt werden: wenn es viele Substanzen gibt und diese vielen sich bewegen, was bewegt sie? Bewegen sie sich gegenseitig? Bewegt sie etwa nur die Schwerkraft? Oder gibt es magische Kräfte der Anziehung oder der Abstoßung in den Dingen selbst? Oder liegt der Anlaß der Bewegung außerhalb dieser vielen realen Substanzen? Oder strenger gefragt: wenn zwei Dinge eine Sukzession, eine gegenseitige Veränderung der Lage zeigen, kommt dies von ihnen selbst her? Und ist dies mechanisch oder magisch zu erklären? Oder, wenn dies nicht der Fall wäre, ist es etwas Drittes, was sie bewegt? Es ist ein schlimmes Problem: denn Parmenides hätte auch, selbst zugegeben, daß es viele Substanzen gäbe, doch immer noch die Unmöglichkeit der Bewegung gegen Anaxagoras beweisen können. Er konnte nämlich sagen: nehmt zwei an sich seiende Wesen, jedes mit durchaus verschiedenartigem, selbständig unbedingtem Sein – und solcher Art sind die anaxagorischen Substanzen –: nie können sie demnach aufeinanderstoßen, nie sich bewegen, nie sich anziehn, es gibt zwischen ihnen keine Kausalität, keine Brücke, sie berühren sich nicht, sie stören sich nicht, sie gehen sich nichts an. Der Stoß ist dann ganz ebenso unerklärlich wie die magische Anziehung; was sich unbedingt fremd ist, kann keine Art von Wirkung aufeinander ausüben, also sich auch nicht bewegen noch bewegen lassen. Parmenides würde sogar hinzugefügt haben: der einzige Ausweg, der euch bleibt, ist, den Dingen selbst Bewegung zuzuschreiben; dann ist aber doch alles das, was ihr als Bewegung kennt und seht, nur eine Täuschung und nicht die wahre Bewegung, denn die einzige Art Bewegung, die jenen unbedingt eigenartigen Substanzen zukommen könnte, wäre nur eine selbsteigne Bewegung ohne jede Wirkung. Nun nehmt ihr aber gerade Bewegung an, um jene Wirkungen des Wechsels, der Verschiebung im Raume, der Veränderung, kurz die Kausalitäten und Relationen der Dinge untereinander zu erklären. Gerade diese Wirkungen wären aber nicht erklärt und blieben[397] so problematisch wie vorher; weshalb gar nicht abzusehn ist, wo, zu es nötig wäre, eine Bewegung anzunehmen, da sie gar nicht das leistet, was ihr von ihr begehrt. Die Bewegung kommt dem Wesen der Dinge nicht zu und ist ihnen ewig fremd.

Sich über eine solche Argumentation hinwegzusetzen, wurden jene Gegner der eleatischen unbewegten Einheit durch ein aus der Sinnlichkeit stammendes Vorurteil verführt. Es scheint so unwiderleglich, daß jedes wahrhaft Seiende ein raumfüllender Körper sei, ein Klumpen Materie, groß oder klein, aber jedenfalls räumlich ausgedehnt: so daß zwei und mehrere solcher Klumpen nicht in einem Raume sein können. Unter dieser Voraussetzung nahm Anaxagoras wie später Demokrit an, daß sie sich stoßen müßten, wenn sie in ihren Bewegungen aufeinander gerieten, daß sie sich den gleichen Raum streitig machen würden und daß dieser Kampf eben alle Veränderung verursache. Mit andern Worten: jene ganz isolierten, durch und durch verschiedenartigen und ewig unveränderlichen Substanzen waren doch nicht absolut verschiedenartig gedacht, sondern hatten sämtlich, außer einer spezifischen, ganz besonderen Qualität, doch ein ganz und gar gleichartiges Substrat, ein Stück raumfüllender Materie. In der Teilnahme an der Materie standen sie alle gleich und konnten deshalb aufeinander wirken, d. h. sich stoßen. Überhaupt hing alle Veränderung ganz und gar nicht ab von der Verschiedenartigkeit jener Substanzen, sondern von ihrer Gleichartigkeit als Materie. Es liegt hier in den Annahmen des Anaxagoras ein logisches Versehen zugrunde: denn das wahrhaft an sich Seiende muß gänzlich unbedingt und einheitlich sein, darf somit nichts als seine Ursache voraussetzen – während alle jene anaxagorischen Substanzen doch noch ein Bedingendes, die Materie, haben und deren Existenz bereits voraussetzen: die Substanz »Rot« zum Beispiel war für Anaxagoras eben nicht nur rot an sich, sondern außerdem, verschwiegenerweise, ein Stück qualitätenloser Materie. Nur mit dieser wirkte das »Rot an sich« auf andere Substanzen, nicht mit dem Roten, sondern mit dem, was nicht rot, nicht gefärbt, überhaupt nicht qualitativ bestimmt ist. Wäre das Rot als Rot streng genommen worden, als die eigentliche Substanz selbst, also ohne jenes Substrat, so würde Anaxagoras gewiß nicht gewagt haben, von einer Wirkung des Rot auf andre Substanzen zu reden, etwa gar mit[398] der Wendung, daß das »Rot an sich« die vom »Fleischigen an sich« empfangene Bewegung durch Stoß weiterpflanze. Dann würde es klar sein, daß ein solches wahrhaft Seiendes nie bewegt werden könnte.


15

Man muß auf die Gegner der Eleaten blicken, um die außerordentlichen Vorzüge in der Annahme des Parmenides zu würdigen. Welche Verlegenheiten – denen Parmenides entgangen war – erwarteten Anaxagoras und alle, welche an eine Vielheit der Substanzen glaubten, bei der Frage: »Wieviel Substanzen?« Anaxagoras machte den Sprung, schloß die Augen und sagte: »Unendlich viele«: so war er wenigstens über den unglaublich mühseligen Nachweis einer bestimmten Anzahl von Elementarstoffen hinausgeflogen. Da diese unendlich vielen ohne Zuwachs und unverändert, seit Ewigkeiten existieren müßten, so war in jener Annahme der Widerspruch einer abgeschlossen und vollendet zu denkenden Unendlichkeit gegeben. Kurz, die Vielheit, die Bewegung, die Unendlichkeit, von Parmenides durch den staunenswürdigen Satz vom einen Sein in die Flucht geschlagen, kehrten aus der Verbannung zurück und warfen auf die Gegner des Parmenides ihre Geschosse, um mit ihnen Wunden zu verursachen, für die es keine Heilung gibt. Offenbar haben jene Gegner kein sicheres Bewußtsein von der furchtbaren Kraft jener eleatischen Gedanken »es kann keine Zeit, keine Bewegung, keinen Raum geben, denn diese alle können wir uns nur unendlich denken, und zwar einmal unendlich groß, sodann unendlich teilbar; alles Unendliche aber hat kein Sein, existiert nicht«, was niemand bezweifelt, der den Sinn des Wortes »Sein« streng faßt und der die Existenz von etwas Widerspruchsvollem, zum Beispiel von einer absolvierten Unendlichkeit für unmöglich hält. Wenn aber gerade die Wirklichkeit uns alles nur unter der Form der vollendeten Unendlichkeit zeigt, so fällt es in die Augen, daß sie sich selbst widerspricht, also keine wahre Realität hat. Wenn jene Gegner aber einwenden wollten: »Aber in eurem Denken selbst gibt es doch Sukzession, also könnte auch euer Denken nicht real sein und somit auch nichts beweisen können«, so würde Parmenides vielleicht ähnlich wie Kant in einem ähnlichen Falle, bei einem gleichen Vorwurfe,[399] geantwortet haben: »Ich kann zwar sagen, meine Vorstellungen folgen einander: aber das heißt nur: wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, das heißt nach der Form des inneren Sinnes, bewußt. Die Zeit ist deshalb nicht etwas an sich, auch keine den Dingen objektiv anhängende Bestimmung.« Es wäre also zwischen dem reinen Denken, das zeitlos wäre wie das eine parmenideische Sein, und dem Bewußtsein von diesem Denken zu unterscheiden, und letzteres übersetzte bereits das Denken in die Form des Scheins, also der Sukzession, der Vielheit und der Bewegung. Es ist wahrscheinlich, daß sich Parmenides dieses Auswegs bedient haben würde: übrigens müßte dann gegen ihn dasselbe eingewendet werden, was A. Spir (Denken und Wirklichkeit, 2. Aufl., Band I, S. 209f.) gegen Kant einwendet. »Nun ist es aber erstens klar, daß ich von einer Sukzession als solcher nichts wissen kann, wenn ich die aufeinanderfolgenden Glieder derselben nicht zugleich in meinem Bewußtsein habe. Die Vorstellung einer Sukzession ist also selbst gar nicht sukzessiv, folglich auch von der Sukzession unserer Vorstellungen durchaus verschieden. Zweitens impliziert die Annahme Kants so offenbare Absurditäten, daß es einen wunder nimmt, wie er sie unbeachtet lassen konnte. Cäsar und Sokrates sind nach dieser Annahme nicht wirklich tot, sie leben noch ebenso gut wie vor zweitausend Jahren und scheinen bloß tot zu sein infolge einer Einrichtung meines ›inneren Sinnes‹. Künftige Menschen leben jetzt schon, und wenn sie jetzt noch nicht als lebend hervortreten, so ist daran ebenfalls jene Einrichtung des ›inneren Sinnes‹ schuld. Hier fragt es sich vor allen Dingen: Wie kann der Anfang und das Ende des bewußten Lebens selbst mitsamt allen seinen inneren und äußeren Sinnen bloß in der Auffassung des inneren Sinnes existieren? Tatsache ist eben, daß man die Realität der Veränderung durchaus nicht ableugnen kann. Wird sie zum Fenster hinausgewiesen, so schlüpft sie durch das Schlüsselloch wieder herein. Man sage: ›Es scheint mir bloß, daß Zustände und Vorstellungen wechseln‹ – so ist doch dieser Schein selbst etwas objektiv Vorhandenes, und in ihm hat die Sukzession unzweifelhaft objektive Realität, es folgt darin etwas wirklich aufeinander. – Außerdem muß man bemerken, daß die ganze Kritik der Vernunft ja nur unter der Voraussetzung Grund und Recht haben kann, daß uns unsre Vorstellungen selbst so erscheinen, wie sie sind. Denn wenn auch die[400] Vorstellungen uns anders erschienen, als sie wirklich sind, so würde man auch über diese keine gültige Behauptung aufstellen, also keine Erkenntnistheorie und keine ›transzendentale‹ Untersuchung von objektiver Gültigkeit zustande bringen können. Nun steht es aber außer Zweifel, daß uns unsre Vorstellungen selbst als sukzessiv erscheinen.«

Die Betrachtung dieser zweifellos sicheren Sukzession und Bewegtheit hat nun Anaxagoras zu einer denkwürdigen Hypothese gedrängt. Ersichtlich bewegten die Vorstellungen sich selbst, wurden nicht geschoben und hatten keine Ursache der Bewegung außer sich. Also gibt es etwas, sagte er sich, was den Ursprung und den Anfang der Bewegung in sich selbst trägt; zweitens aber beachtet er, daß diese Vorstellung nicht nur sich selbst, sondern auch noch etwas ganz Verschiednes bewege, den Leib. Er entdeckt also in der unmittelbarsten Erfahrung eine Wirkung von Vorstellungen auf ausgedehnte Materie, die sich als Bewegung der letzteren zu erkennen gibt. Das galt ihm als Tatsache; erst nebenbei reizte es ihn, auch diese Tatsache zu erklären. Genug, er hatte ein regulatives Schema für die Bewegung in der Welt, die er jetzt entweder als eine Bewegung der wahren, isolierten Wesenheiten durch das Vorstellende, den Nous, oder als Bewegung durch bereits Bewegtes dachte. Daß die letztere Art, die mechanische Übertragung von Bewegungen und Stößen, bei seiner Grundannahme ebenfalls ein Problem in sich enthalte, ist ihm wahrscheinlich entgangen: die Gemeinheit und Alltäglichkeit der Wirkung durch Stoß stumpfte wohl seinen Blick gegen die Rätselhaftigkeit desselben ab. Dagegen empfand er recht wohl die problematische, ja widerspruchsvolle Natur einer Wirkung von Vorstellungen auf an sich seiende Substanzen und suchte deshalb auch diese Wirkung auf ein mechanisches, ihm als erklärlich geltendes Schieben und Stoßen zurückzuführen. Der Nous war ja jedenfalls auch eine solche an sich seiende Substanz und wurde von ihm als ganz zarte und feine Materie mit der spezifischen Qualität Denken charakterisiert. Bei einem solchermaßen angenommenen Charakter mußte freilich die Wirkung dieser Materie auf die andre Materie ganz derselben Art sein wie die, welche eine andre Substanz auf eine dritte ausübt, das heißt eine mechanische, durch Druck und Stoß bewegende. Immerhin hatte er jetzt eine Substanz, welche sich selbst bewegt und anderes bewegt, deren Bewegung nicht[401] von außen kommt und von niemandem sonst abhängt: während es fast gleichgültig schien, wie nun diese Selbstbewegung zu denken sei, etwa ähnlich wie das Sich-Hin-und-Herschieben von ganz zarten und kleinen runden Quecksilber-Kügelchen. Unter allen Fragen, die die Bewegung betreffen, gibt es keine lästigere als die Frage nach dem Anfang der Bewegung. Wenn man sich nämlich alle übrigen Bewegungen als Folgen und Wirkungen denken darf, so müßte doch immer die erste uranfängliche erklärt werden; für die mechanischen Bewegungen kann aber jedenfalls das erste Glied der Kette nicht in einer mechanischen Bewegung liegen, da dies so viel heißen würde als auf den widersinnigen Begriff der causa sui rekurrieren. Den ewigen unbedingten Dingen aber eigene Bewegung, gleichsam von Anfang, als Mitgift ihres Daseins, beizulegen, geht ebenfalls nicht an. Denn Bewegung ist nicht ohne eine Richtung wohin und worauf, also nur als Beziehung und Bedingung vorzustellen; ein Ding ist aber nicht mehr an sich seiend und unbedingt, wenn es sich seiner Natur nach notwendig auf etwas außer ihm Existierendes bezieht. In dieser Verlegenheit vermeinte Anaxagoras eine außerordentliche Hilfe und Rettung in jenem sich selbst bewegenden und sonst unabhängigen Nous zu finden: als dessen Wesen gerade dunkel und verschleiert genug ist, um darüber täuschen zu können, daß auch seine Annahme im Grunde jene verbotene causa sui involviert. Für die empirische Betrachtung ist es sogar ausgemacht, daß das Vorstellen nicht eine causa sui, sondern die Wirkung des Gehirnes ist, ja ihr muß es als eine wunderliche Ausschweifung gelten, den »Geist«, das Gehirnerzeugnis, von seiner causa zu trennen und nach dieser Loslösung noch als existierend zu wähnen. Dies tat Anaxagoras; er vergaß das Gehirn, seine erstaunliche Künstlichkeit, die Zartheit und Verschlungenheit seiner Windungen und Gänge und dekretierte den »Geist an sich«. Dieser »Geist an sich« hatte Willkür, allein von allen Substanzen Willkür – eine herrliche Erkenntnis! Er konnte irgendwann einmal mit der Bewegung der Dinge außer ihm anfangen, ungeheure Zeiten dagegen sich mit sich selbst beschäftigen – kurz, Anaxagoras durfte einen ersten Bewegungsmoment in einer Urzeit annehmen, als den Keimpunkt alles sogenannten Werdens, das heißt aller Veränderung, nämlich aller Verschiebung und Umstellung der ewigen Substanzen und ihrer Teilchen. Wenn[402] auch der Geist selbst ewig ist, so ist er doch keineswegs gezwungen, sich seit Ewigkeiten mit dem Herumschieben der Materien-Körner zu quälen: und jedenfalls gab es eine Zeit und einen Zustand jener Materien – gleichgültig, ob von kurzer oder langer Dauer –, in dem der Nous noch nicht auf sie eingewirkt hatte, in dem sie noch unbewegt waren. Dies ist die Periode des anaxagorischen Chaos.


16

Das anaxagorische Chaos ist keine sofort einleuchtende Konzeption: um sie zu fassen, muß man die Vorstellung verstanden haben, die unser Philosoph von dem sogenannten »Werden« sich gebildet hat. Denn an sich ergäbe der Zustand aller verschiedenartigen Elementar-Existenzen vor aller Bewegung noch keinesfalls notwendig eine absolute Mischung aller »Samen der Dinge«, wie der Ausdruck des Anaxagoras lautet, eine Mischung, die er sich als ein selbst bis zu den kleinsten Teilen vollständiges Durcheinander imaginierte, nachdem alle jene Elementar-Existenzen wie in einem Mörser zerstoßen und zu Staubatomen aufgelöst waren, so daß sie nun in jenem Chaos wie in einem Mischkrug durcheinandergerührt werden konnten. Man könnte sagen, daß diese Chaos-Konzeption nichts Notwendiges habe; man brauche vielmehr nur eine beliebige zufällige Lage aller jener Existenzen, aber nicht ein unendliches Zerteiltsein derselben anzunehmen; ein regelloses Nebeneinander genüge bereits, es bedürfe keines Durcheinanders, geschweige denn eines so totalen Durcheinanders. Wie kam also Anaxagoras auf diese schwere und komplizierte Vorstellung? Wie gesagt, durch seine Auffassung des empirisch gegebenen Werdens. Aus seiner Erfahrung schöpfte er zuerst einen höchst auffallenden Satz über das Werden, und dieser Satz erzwang sich, als seine Konsequenz, jene Lehre vom Chaos.

Die Beobachtung der Vorgänge der Entstehung in der Natur, nicht eine Rücksicht auf ein früheres System, gab Anaxagoras die Lehre ein, daß alles aus allem entstehe: dies war die Überzeugung des Naturforschers, gegründet auf eine mannigfache, im Grunde natürlich grenzenlos dürftige Induktion. Er bewies dies so: wenn selbst das Gegenteil aus dem Gegenteil, das Schwarze zum Beispiel aus dem Weißen, entstehen[403] könne, so sei alles möglich: jenes geschehe aber bei der Auflösung des weißen Schnees in schwarzes Wasser. Die Ernährung des Körpers erklärte er sich dadurch, daß in den Nahrungsmitteln unsichtbar kleine Bestandteile von Fleisch oder Blut oder Knochen sein müßten, die sich bei der Ernährung ausschieden und mit dem Gleichartigen im Körper vereinigten. Wenn aber alles aus allem werden kann, Festes aus dem Flüssigen, Hartes aus dem Weichen, Schwarzes aus dem Weißen, Fleischiges aus Brot, so muß auch alles in allem enthalten sein. Die Namen der Dinge drücken dann nur das Übergewicht der einen Substanz über die anderen, in kleineren, oft nicht wahrnehmbaren Massen vorkommenden Substanzen aus. Im Gold, das heißt in dem, was man a potiore mit dem Namen »Gold« bezeichnet, muß auch Silber, Schnee, Brot und Fleisch enthalten sein, aber in ganz geringen Bestandteilen; nach dem Überwiegenden, nach der Goldsubstanz, ist das Ganze genannt.

Wie ist es aber möglich, daß eine Substanz überwiegt und in größerer Masse, als die anderen besitzen, ein Ding erfüllt? Die Erfahrung zeigt, daß nur durch die Bewegung dieses Übergewicht allmählich erzeugt wird, daß das Übergewicht das Resultat eines Prozesses ist, den wir gemeinhin Werden nennen; daß dagegen alles in allem ist, ist nicht das Resultat eines Prozesses, sondern im Gegenteil die Voraussetzung alles Werdens und alles Bewegtseins und somit vor allem Werden. Mit anderen Worten: die Empirie lehrt, daß fortwährend das Gleiche zum Gleichen, zum Beispiel durch Ernährung, hinzugeführt wird, also war es ursprünglich nicht beieinander und zusammengeballt, sondern getrennt. Vielmehr wird in den vor den Augen liegenden empirischen Vorgängen das Gleiche immer aus dem Ungleichen herausgezogen und fortbewegt (zum Beispiel bei der Ernährung die Fleischteilchen aus dem Brote usw.), somit ist das Durcheinander der verschiedenen Substanzen die ältere Form der Konstitution der Dinge und der Zeit nach vor allem Werden und Bewegen. Wenn also alles sogenannte Werden ein Ausscheiden ist und eine Mischung voraussetzt, so fragt es sich nun, welchen Grad diese Mischung, dieses Durcheinander ursprünglich gehabt haben muß. Obgleich der Prozeß eine Bewegung des Gleichartigen zum Gleichartigen, das Werden schon eine ungeheure Zeit andauert, erkennt man trotzdem, wie auch jetzt[404] noch in allen Dingen Reste und Samenkörner aller anderen Dinge eingeschlossen sind, die auf ihre Ausscheidung warten, und wie nur hier und da ein Übergewicht zustande gebracht ist; die Urmischung muß eine vollständige, das heißt bis ins Unendlich-Kleine gehende gewesen sein, da die Entmischung einen unendlichen Zeitraum verbraucht. Dabei wird streng an dem Gedanken festgehalten, daß alles, was ein wesenhaftes Sein besitzt, ins Unendliche teilbar ist, ohne sein Spezifikum einzubüßen.

Nach diesen Voraussetzungen stellt sich Anaxagoras die Urexistenz der Welt vor, etwa gleich einer staubartigen Masse von unendlich kleinen erfüllten Punkten, von denen jeder spezifisch einfach ist und nur eine Qualität besitzt, doch so, daß jede spezifische Qualität in unendlich vielen einzelnen Punkten repräsentiert wird. Solche Punkte hat Aristoteles Homoiomerien genannt in Rücksicht darauf, daß sie die unter sich gleichartigen Teile eines mit seinen Teilen gleichartigen Ganzen sind. Man würde aber sehr irren, jenes ursprüngliche Durcheinander aller solcher Punkte, solcher »Samenkörner der Dinge«, dem einen Urstoffe des Anaximander gleichzusetzen: denn letzterer, das »Unbestimmte« genannt, ist eine durchaus einheitliche und eigenartige Masse, ersteres ein Aggregat von Stoffen. Zwar kann man von diesem Aggregat von Stoffen dasselbe aussagen wie von dem Unbestimmten des Anaximander: wie dies Aristoteles tut; es konnte weder weiß noch grau noch schwarz noch sonstwie gefärbt sein, es war geschmacklos, geruchlos und als Ganzes überhaupt weder quantitativ noch qualitativ bestimmt: soweit reicht die Gleichheit des anaximandrischen Unbestimmten und der anaxagorischen Urmischung. Abgesehen aber von dieser negativen Gleichheit unterscheiden sie sich positiv dadurch, daß die letztere zusammengesetzt, das erstere eine Einheit ist. Anaxagoras hatte wenigstens durch die Annahme seines Chaos so viel vor Anaximander voraus, daß er nicht nötig hatte, das Viele aus dem Einen, das Werdende aus dem Seienden abzuleiten.

Freilich mußte er bei seiner Allmischung der Samen eine Ausnahme zulassen: der Nous war damals nicht und ist überhaupt auch jetzt keinem Dinge beigemischt. Denn wenn er nur einem Seienden beigemischt wäre, so müßte er dann, in unendlichen Zerteilungen, in allen Dingen wohnen. Diese Ausnahme ist logisch höchst bedenklich,[405] zumal bei der früher geschilderten materiellen Natur des Nous, sie hat etwas Mythologisches und scheint willkürlich, war aber, nach den anaxagorischen Prämissen, eine strenge Notwendigkeit. Der Geist, übrigens teilbar ins Unendliche wie jeder andre Stoff, nur nicht durch andre Stoffe, sondern durch sich selbst, wenn er sich teilt, sich teilend und bald groß, bald klein sich zusammenballend, hat seine gleiche Masse und Qualität seit aller Ewigkeit: und das, was in diesem Augenblick in der gesamten Welt, bei Tieren, Pflanzen, Menschen, Geist ist, war es auch, ohne ein Mehr oder Weniger, wenn auch anders verteilt, vor einem Jahrtausend. Aber wo er je ein Verhältnis zu einer andern Substanz hatte, da war er ihr nie beigemischt, sondern ergriff sie freiwillig, bewegte und schob sie nach Willkür, kurz herrschte über sie. Er, der allein in sich Bewegung hat, besitzt auch allein die Herrschaft in der Welt und zeigt diese durch das Bewegen der Substanzen–Körner. Wohin aber bewegt er sie? Oder ist eine Bewegung denkbar ohne Richtung, ohne Bahn? Ist der Geist in seinen Stößen ebenso willkürlich, wie es willkürlich ist, wann er stößt und wann er nicht stößt? Kurz, herrscht innerhalb der Bewegung der Zufall, das heißt die blindeste Beliebigkeit? An dieser Grenze betreten wir das Allerheiligste in dem Vorstellungsbezirk des Anaxagoras.


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Was mußte mit jenem chaotischen Durcheinander des Urzustandes vor aller Bewegung gemacht werden, damit aus ihm ohne jeden Zuwachs neuer Substanzen und Kräfte die vorhandene Welt mit den regelmäßigen Bahnen der Gestirne, mit den gesetzmäßigen Formen der Jahres- und Tageszeiten, mit der mannigfachen Schönheit und Ordnung, kurz, damit aus dem Chaos ein Kosmos werde? Es kann dies nur Folge der Bewegung sein, aber einer bestimmten und klug eingerichteten Bewegung. Diese Bewegung selbst ist das Mittel des Nous, sein Ziel würde die vollendete Ausscheidung des Gleichen sein, ein bisher noch unerreichtes Ziel, weil die Unordnung und Mischung anfangs eine unendliche war. Dieses Ziel ist nur durch einen ungeheuren Prozeß zu erstreben, nicht durch einen mythologischen Zauberschlag auf einmal herbeizuschaffen: wenn einmal, in einem unendlich[406] fernen Zeitpunkt, es erreicht ist, daß alles Gleichartige zusammengeführt ist und jetzt die Urexistenzen ungeteilt nebeneinander in schöner Ordnung lagern, wenn jedes Teilchen seine Genossen und seine Heimat gefunden, wenn der große Friede nach der großen Zerteilung und Zerspaltung der Substanzen eintritt und es gar nichts Zerspaltenes und Zerteiltes mehr gibt, dann wird der Nous wieder in seine Selbstbewegung zurückkehren und nicht mehr selbst zerteilt, bald in größeren, bald in kleineren Massen, als Pflanzengeist oder Tiergeist die Welt durchschweifen und sich in andre Materie einwohnen. Inzwischen ist die Aufgabe noch nicht zu Ende geführt: aber die Art der Bewegung, welche der Nous ausgedacht hat, um sie zu lösen, erweist eine wunderbare Zweckmäßigkeit, denn durch sie wird die Aufgabe in jedem neuen Augenblicke mehr gelöst. Sie hat nämlich den Charakter einer konzentrisch fortgesetzten Kreisbewegung: an irgendeinem Punkte der chaotischen Mischung hat sie begonnen, in der Form einer kleinen Drehung und in immer größeren Bahnen durchmißt diese Kreisbewegung alles vorhandene Sein, überall das Gleiche zum Gleichen herausschnellend. Zuerst bringt dieser rollende Umschwung alles Dichte an das Dichte, alles Dünne an das Dünne und ebenso alles Dunkle, Helle, Feuchte, Trockne zu ihresgleichen: über diesen allgemeinen Rubriken gibt es wieder zwei noch umfassendere, nämlich Äther, das heißt alles, was warm, licht, dünn ist, und Aër, alles Dunkle, Kalte, Schwere, Feste bezeichnend. Durch Scheidung der ätherischen Massen von den aërischen bildet sich, als nächste Wirkung jenes in immer größeren Kreisen rollenden Rades, etwas Ähnliches, wie bei einem Wirbel, den jemand in einem stehenden Gewässer macht: die schweren Bestandteile werden in die Mitte geführt und zusammengedrückt. Ebenso formt sich jene fortschreitende Wasserhose im Chaos nach außen aus den ätherischen, dünnen, lichten, nach innen aus den wolkigen, schweren, feuchten Bestandteilen. Dann scheidet sich, im Fortgange dieses Prozesses, aus jener in. Innern sich zusammenballenden aërischen Masse das Wasser und aus dem Wasser wieder das Erdige aus, aus dem Erdigen aber, unter der Wirkung der furchtbaren Kälte, die Gesteine. Wiederum werden einige Steinmassen bei der Wucht da Drehung einmal seitwärts von der Erde fortgerissen und hinein in das Bereich des heißen lichten Äthers geworfen; dort,[407] in dessen feurigem Elemente zum Glühen gebracht und in der ätherischen Kreisbewegung mit fortgeschwungen, strahlen sie Licht aus und beleuchten und erwärmen die an sich dunkle und kalte Erde als Sonne und Gestirne. Die ganze Konzeption ist von einer wunderbaren Kühnheit und Einfachheit und hat gar nichts von jener täppischen und menschenähnlichen Teleologie an sich, die man häufig an den Namen des Anaxagoras geknüpft hat. Jene Konzeption hat gerade darin ihre Größe und ihren Stolz, daß sie aus dem bewegten Kreis den ganzen Kosmos des Werdens ableitet, während Parmenides das wahrhaft Seiende wie eine ruhende tote Kugel anschaute. Ist jener Kreis erst bewegt und durch den Nous ins Rollen gebracht, so ist alle Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Schönheit der Welt die natürliche Folge jenes ersten Anstoßes. Welches Unrecht tut man Anaxagoras an, wenn man ihm seine in dieser Konzeption sich bezeigende weise Enthaltung von der Teleologie zum Vorwurf macht und von seinem Nous verächtlich wie von einem deus ex machina redet. Vielmehr hätte Anaxagoras gerade wegen der Beseitigung mythologischer und theistischer Wundereingriffe und anthropomorphischer Zwecke und Utilitäten sich ähnlicher stolzer Worte bedienen können, wie sie Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels gebraucht hat. Ist es doch ein erhabener Gedanke, jene Herrlichkeit des Kosmos und die staunenswürdige Einrichtung der Sternenbahnen durchaus auf eine einfache, rein mechanische Bewegung und gleichsam auf eine bewegte mathematische Figur zurückzuführen, also nicht auf Absichten und eingreifende Hände eines Maschinengottes, sondern nur auf eine Art der Schwingung, die, wenn sie nur einmal angefangen hat, in ihrem Verlaufe notwendig und bestimmt ist und Wirkungen erzielt, die der weisesten Berechnung des Scharfsinns und der durchdachtesten Zweckmäßigkeit gleichen, ohne sie zu sein. »Ich genieße das Vergnügen«, sagte Kant, »ohne Beihilfe willkürlicher Erdichtungen, unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze, sich ein wohlgeordnetes Ganzes erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsysteme, das das unsrige ist, so ähnlich sieht, daß ich mich nicht entbrechen kann, es für dasselbe zu halten. Mich dünkt, man könnte hier, in gewissem Verstande, ohne Vermessenheit sagen: gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!«


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[408] Selbst nun vorausgesetzt, daß man einmal jene Urmischung als richtig erschlossen gelten läßt, scheinen doch zunächst einige Bedenken aus der Mechanik dem großen Entwurfe des Weltenbaues entgegenzutreten. Wenn nämlich auch der Geist an einer Stelle eine Kreisbewegung erregt, so ist die Fortsetzung derselben, besonders da sie unendlich sein soll und allmählich alle vorhandenen Massen herumschwingen soll, noch sehr schwer vorzustellen. Von vornherein würde man vermuten, daß der Druck aller übrigen Materie diese kaum entstandene kleine Kreisbewegung erdrücken müßte; daß dies nicht geschieht, setzt von seiten des erregenden Nous voraus, daß er plötzlich mit furchtbarer Kraft einsetzt, so schnell jedenfalls, daß wir die Bewegung einen Wirbel nennen müssen: wie Demokrit sich ebenfalls einen solchen Wirbel imaginierte. Und da dieser Wirbel unendlich stark sein muß, um durch die ganze darauflastende Welt des Unendlichen nicht gehemmt zu werden, so wird er unendlich schnell sein, denn die Stärke kann sich ursprünglich nur in der Schnelligkeit offenbaren. Je weiter dagegen die konzentrischen Ringe sind, um so langsamer wird diese Bewegung sein; wenn einmal die Bewegung das Ende der unendlich ausgespannten Welt erreichen könnte, dann müßte sie bereits unendlich kleine Schnelligkeit des Umschwungs haben. Umgekehrt, wenn wir uns die Bewegung unendlich groß, das heißt unendlich schnell denken, nämlich bei dem allerersten Einsetzen der Bewegung, so muß auch der anfängliche Kreis unendlich klein gewesen sein; wir bekommen also als Anfang einen um sich selbst gedrehten Punkt mit einem unendlich kleinen materiellen Inhalte. Dieser würde aber die weitere Bewegung gar nicht erklären: man könnte sich selbst sämtliche Punkte der Urmasse um sich selbst wirbelnd denken, und doch bliebe die ganze Masse unbewegt und ungeschieden. Falls dagegen jener vom Nous ergriffene und geschwungene materielle Punkt von unendlicher Kleinheit nicht um sich gedreht wurde, sondern eine Peripherie umschrieb, die beliebig größer war, so genügte dies bereits, um andre materielle Punkte anzustoßen, fortzubewegen, zu schleudern, abprallen zu lassen und so allmählich einen beweglichen und um sich greifenden Tumult zu erregen, in dem als nächstes Resultat jene[409] Scheidung der aërischen Massen von den ätherischen vor sich gehen mußte. Wie der Einsatz der Bewegung selbst ein willkürlicher Akt des Nous ist, so ist es auch die Art dieses Einsatzes, insofern die erste Bewegung einen Kreis, dessen Radius beliebig größer gewählt ist als ein Punkt, umschreibt.


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Hier könnte man nun freilich fragen, was damals dem Nous so plötzlich eingefallen ist, ein beliebiges materielles Pünktchen aus jener Anzahl von Punkten anzustoßen und in wirbelndem Tanze herumzudrehen, und warum ihm das nicht früher einfiel. Darauf würde Anaxagoras antworten: »Er hat das Privilegium der Willkür, er darf einmal beliebig anfangen, er hängt von sich ab, während alles andere von außen her determiniert ist. Er hat keine Pflicht und also auch keinen Zweck, den zu verfolgen er gezwungen wäre; wenn er einmal mit jener Bewegung anfing und sich einen Zweck setzte, so war dies doch nur« – die Antwort ist schwer, Heraklit würde ergänzen – »ein Spiel

Das scheint immer die den Griechen auf der Lippe schwebende letzte Lösung oder Auskunft gewesen zu sein. Der anaxagorische Geist ist ein Künstler, und zwar das gewaltigste Genie der Mechanik und Baukunst, mit den einfachsten Mitteln die großartigsten Formen und Bahnen und gleichsam eine bewegliche Architektur schaffend, aber immer aus jener irrationalen Willkür, die in der Tiefe des Künstlers liegt. Es ist, als ob Anaxagoras auf Phidias deutete und angesichts des ungeheuren Künstlerwerks, des Kosmos, ebenso wie vor dem Parthenon uns zuriefe: »Das Werden ist kein moralisches, sondern nur ein künstlerisches Phänomen.« Aristoteles erzählt, daß Anaxagoras auf die Frage, weshalb das Dasein überhaupt für ihn wertvoll sei, geantwortet habe: »Um den Himmel und die gesamte Ordnung des Kosmos anzuschauen.« Er behandelte die physikalischen Dinge so andächtig und mit so geheimnisvoller Scheu, mit der wir vor einem antiken Tempel stehen; seine Lehre wurde zu einer Art von freigeistiger Religionsübung, sich schützend durch das odi profanum vulgus et arceo und ihre Anhänger aus der höchsten und edelsten Gesellschaft Athens mit[410] Vorsicht wählend. In der abgeschlossenen Gemeinde der athenischen Anaxagoreer war die Mythologie des Volkes nur noch als eine symbolische Sprache erlaubt; alle Mythen, alle Götter, alle Heroen galten hier nur als Hieroglyphen der Naturdeutung, und selbst das homerische Epos sollte der kanonische Gesang vom Walten des Nous und von den Kämpfen und Gesetzen der Physis sein. Hier und da drang ein Ton aus dieser Gesellschaft erhabener Freigeister in das Volk; und besonders der große und jederzeit verwegene, auf Neues sinnende Euripides wagte mancherlei durch die tragische Maske laut werden zu lassen, was der Masse wie ein Pfeil durch die Sinne drang und von dem sie sich nur durch possenhafte Karikaturen und lächerliche Umdeutungen befreite.

Der allergrößte Anaxagoreer ist aber Perikles, der mächtigste und würdigste Mensch der Welt; und gerade über ihn legt Plato das Zeugnis ab, daß allein die Philosophie des Anaxagoras seinem Genie den erhabnen Flug gegeben habe. Wenn er als öffentlicher Redner vor seinem Volke stand in der schönen Starrheit und Unbewegtheit eines marmornen Olympiers und jetzt, ruhig, in seinen Mantel gehüllt, bei unverändertem Faltenwurfe, ohne jeden Wechsel des Gesichtsausdrucks, ohne Lächeln, mit dem gleichbleibenden starken Ton der Stimme, also ganz und gar undemosthenisch, aber eben perikleisch redete, donnerte, blitzte, vernichtete und erlöste – dann war er die Abbreviatur des anaxagorischen Kosmos, das Bild des Nous, der sich das schönste und würdevollste Gehäuse gebaut hat und gleichsam die sichtbare Menschwerdung der bauenden, bewegenden, ausscheidenden, ordnenden, überschauenden, künstlerisch-undeterminierten Kraft des Geistes. Anaxagoras selbst hat gesagt, der Mensch sei schon deshalb das vernünftigste Wesen oder müsse schon darum den Nous in größerer Fülle als alle anderen Wesen in sich beherbergen, weil er so bewunderungswürdige Organe wie die Hände habe; er schloß also darauf, daß jener Nous je nach der Größe und Masse, in der er sich eines materiellen Körpers bemächtigt, sich immer die seinem Quantitätsgrade entsprechenden Werkzeuge aus dieser Materie baue, die schönsten und zweckmäßigsten somit, wenn er in größter Fülle erscheint. Und wie die wundersamste und zweckmäßigste Tat des Nous jene kreisförmige Urbewegung sein mußte, da damals der Geist noch[411] ungeteilt in sich zusammen war, so erschien wohl die Wirkung der perikleischen Rede dem horchenden Anaxagoras oftmals als ein Gleichnisbild jener kreisförmigen Urbewegung; denn auch hier spürte er zuerst einen mit furchtbarer Kraft, aber geordnet sich bewegenden Gedankenwirbel, der in konzentrischen Kreisen die Nächsten und die Fernsten allmählich erfaßte und fortriß und der, wenn er sein Ende erreichte, das gesamte Volk ordnend und scheidend umgestaltet hatte.

Den späteren Philosophen des Altertums war die Art, wie Anaxagoras von seinem Nous zur Erklärung der Welt Gebrauch machte, wunderlich, ja kaum verzeihlich; es erschien ihnen, als ob er ein herrliches Werkzeug gefunden, aber nicht recht verstanden habe, und sie suchten nachzuholen, was vom Finder versäumt war. Sie erkannten also nicht, welchen Sinn die vom reinsten Geiste naturwissenschaftlicher Methode eingegebne Entsagung des Anaxagoras hatte, die sich in jedem Falle und vor allem die Frage stellt, wodurch etwas ist (causa efficiens) und nicht, weshalb etwas ist (causa finalis). Der Nous ist von Anaxagoras nicht zur Beantwortung der speziellen Frage »wodurch gibt es Bewegung und wodurch gibt es regelmäßige Bewegungen?« herbeigezogen worden; Plato aber wirft ihm vor, er habe zeigen müssen, aber nicht gezeigt, daß jedes Ding in seiner Weise und an seinem Orte sich am schönsten, besten und zweckmäßigsten befinde. Dies hätte aber Anaxagoras in keinem einzelnen Falle zu behaupten gewagt, für ihn war die vorhandene Welt nicht einmal die denkbar vollkommenste, denn er sah jedes Ding aus jedem entstehen und fand die Scheidung der Substanzen durch den Nous weder am Ende des erfüllten Raumes in der Welt noch in den einzelnen Wesen vollzogen und abgetan. Es reichte seinem Erkennen vollständig aus, eine Bewegung gefunden zu haben, welche in einfacher Fortwirkung aus einem durch und durch gemischten Chaos die sichtbare Ordnung schaffen kann, und er hütete sich wohl, die Frage nach dem Weshalb der Bewegung, nach dem vernünftigen Zweck der Bewegung zu stellen. Hatte nämlich der Nous einen seinem Wesen nach notwendigen Zweck durch sie zu erfüllen, so stand es nicht mehr in seiner Willkür, die Bewegung irgendeinmal anzufangen; sofern er ewig ist, hätte er auch ewig schon von diesem Zwecke bestimmt werden müssen, und dann hätte es keinen Zeitpunkt geben dürfen, in dem die Bewegung noch fehlte,[412] ja es wäre logisch verboten gewesen, für die Bewegung einen Anfangspunkt anzunehmen: wodurch dann wiederum die Vorstellung vom ursprünglichen Chaos, das Fundament der ganzen anaxagorischen Weltdeutung, ebenfalls logisch unmöglich geworden wäre. Um solchen Schwierigkeiten, die die Teleologie schafft, zu entgehen, mußte Anaxagoras immer auf das stärkste betonen und beteuern, daß der Geist willkürlich sei; alle seine Akte, auch der jener Urbewegung, seien Akte des »freien Willens«, während dagegen die ganze andre Welt streng determiniert, und zwar mechanisch determiniert, nach jenem Urmoment sich bilde. Jener absolut freie Wille kann aber nur zwecklos gedacht werden, ungefähr nach Art des Kinderspieles oder des künstlerischen Spieltriebes. Es ist ein Irrtum, wenn man Anaxagoras die gewöhnliche Verwechslung des Teleologen zumutet, der im Anstaunen der außerordentlichen Zweckmäßigkeit, der Übereinstimmung der Teile mit dem Ganzen, namentlich im Organischen, voraussetzt, das, was für den Intellekt existiert, sei auch durch den Intellekt hineingekommen, und das, was er nur unter Leitung des Zweckbegriffs zustande bringt, müsse auch von der Natur durch Überlegung und Zweckbegriffe zustande gebracht sein (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, Band II, zweites Buch, Kapitel 26, zur Teleologie). In der Manier des Anaxagoras gedacht, ist aber im Gegenteil die Ordnung und Zweckmäßigkeit der Dinge direkt nur das Resultat einer blind mechanischen Bewegung; und nur um diese Bewegung veranlassen zu können, um aus der Todesruhe des Chaos irgendwann einmal herauszukommen, nahm Anaxagoras den willkürlichen, von sich allein abhängigen Nous an. Er schätzte an ihm gerade die Eigenschaft, beliebig zu sein, also unbedingt, undeterminiert, weder von Ursachen noch von Zwecken geleitet, wirken zu können.[413]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3.
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