Sechstes Buch.
Uebersinnliche Wahrnehmung und Gedächtniss

[98] 1. Wenn wir sagen, dass die sinnliche Wahrnehmungen nicht als Abformungen oder als Eindrücke in der Seele entstehen, werden wir folgerichtig auch von den Erinnerungen durchaus nicht sagen, dass sie ein Festhalten des Gelernten und Wahrgenommenen seien, dergestalt dass der Abdruck in der Seele bleibe; dieser hatte ja auch ursprünglich nicht statt. Deshalb ergiebt sich beides aus einem und demselben Salze: entweder findet ein Abdruck statt und er bleibt in der Erinnerung, oder wenn man eins von beiden nicht zugiebt, muss man auch das andere in Abrede stellen. Wir, die wir nun[98] keins von beiden zugeben, werden nothwendig untersuchen, auf welche Weise jedes von beiden geschieht, da wir weder sagen, dass ein Abdruck von dem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand in der Seele statthabe und sie forme, noch zugeben, dass das Gedächtniss darin bestehe dass der Abdruck bleibt. Wenn wir bei dem deutlichsten Sinne den Vorgang und das Ergebniss betrachten, so werden wir mit Uebertragung desselben auch bei den andern Sinnen das Gesuchte finden. Nun ist es doch wohl überall klar, dass wenn wir irgend etwas durch das Auge wahrnehmen, wir da sehen und das Gesicht hinwenden, wo der sichtbare Gegenstand direct vor uns liegt, in der Vorstellung dass dort die Auffassung vor sich gebt und die Seele auf ein Object ausserhalb blickt, gerade weil, wie ich glaube, kein Abdruck in ihr stattgefunden hat oder stattfindet, etwa wie der Abdruck eines Siegelrings im Wachs. Denn sie brauchte durchaus nicht nach aussen zu blicken, wenn sie bereits in sich eine Form des gesehenen Gegenstand hätte und eben dadurch, dass der Abdruck in sie hineingekommen, sähe. Da ferner die Seele einen Zwischenraum zwischen sich und dem Gesehenen annimmt und angiebt, in welcher Entfernung der Anblick stattfindet, wie konnte sie, was in ihr ist und garnicht von ihr fern als ein Fernes sehen? Und wie könnte sie die Grösse des ausserhalb Befindlichen und dass es gross ist aussagen, z.B. des Himmels, da der Abdruck in ihr so gross nicht sein kann? Was aber am meisten von allem bedeutet: wenn wir nämlich Abdrücke von den Dingen, die wir sehen, empfangen, so werden wir nicht die Dinge selbst erblicken, sondern Bilder und Schalten der gesehenen, so dass die Dinge selbst etwas anderes sind als was wir sehen. Ueberhaupt aber, wenn es wie man sagt nicht möglich ist zu sehen, wenn man den Gegenstand auf die Pupille gelegt hat, sondern ihn entfernen muss und so erst sehen kann, so muss man dies in viel höherem Maasse auf die Seele übertragen. Denn falls wir den Abdruck des sichtbaren Gegenstandes in sie hineinlegten, so würde sie jenen Gegenstand, durch den sie den Abdruck erhält, nicht sehen; denn es müssen immer zwei Dinge da sein, das Sehende und das Gesehene. Ein anderes muss also das Sehende sein und das Bild an einem andern Orte sehen, aber nicht da wo es seihst ist. Es muss also das Sehen nicht auf ein in der Seele Liegendes, sondern auf ein nicht in ihr Liegendes gehen, damit es ein Sehen sei.

2. Wenn es nun nicht auf diese Weise geschieht, wie dann?[99]

Das Gesicht giebt Kunde von Dingen, dir es nicht hat. Denn das ist der Kraft eigenthümlich, nicht zu leiden, sondern wirksam zu sein und das, wozu sie bestimmt ist, ins Werk zu setzen. Denn so, glaube, ich, wird auch von der Seele das Sichtbare wie das Hörbare unterschieden, nicht wenn beides Eindrücke, sondern wenn sie nicht Eindrücke, nicht Affectionen, sondern natürliche Thätigkeiten an dem Object sind, an welchem sie sich befinden. Wir aber aus Besorgniss und Zweifel, dass eine jede Kraft, wenn sie nicht wie von einem Schlage getroffen wird, ihr eigenes Object nicht erkennen möchte, lassen sie das nahe Befindliche erleiden aber nicht erkennen, während ihr doch gegeben ist zu beherrschen aber nicht von ihm beherrscht werden. Eben derselbe Hergang ist auch beim Gehör anzunehmen: Eindruck ist ein articulirtes Anschlagen an die Luft, gleichsam von dem, der den Laut von sich giebt, eingeschriebene Buchstaben, die Kraft jedoch und das Wesen der Seele lesen gleichsam die in der Luft geschriebenen Buchstaben, die nahe an das herankommen, an welchem sie ihrer Natur nach gesehen werden können. Auf dem Gebiet des Geschmacks und Geruchs ist manches ist Affection, manches wie Empfindung und Unterscheidung derselben ist ein Erkennen der Affection, verschieden von der Affection. Die Erkenntniss der übersinnlichen Dinge ist in noch höherem Grade frei von Affection und Eindruck (denn diese gehen gleichsam von innen heraus, jene aber werden von aussen gesehen; und es sind in höherem Grade Thätigkeiten und zwar ursprünglichere); denn sie gehören der Seele an und sie ist es, welche selbst jegliches wirkt. Ob aber die Seele sich selbst als ein Doppeltes und Anderes sieht, den Geist hingegen als einen und das Doppelte beides als eins, soll anderswo erörtert werden.

3. Jetzt aber soll nach diesen Worten gesprochen werden über das Gedächtniss, wobei wir zuvor erklären, dass es nicht zu verwundern oder vielmehr zu bewundern aber nicht zu bezweifeln ist, wenn eine solche Kraft der Seele ohne etwas in sich aufgenommen zu haben Dinge auffasst, die sie nicht erhalten hat. Denn die Natur der Seele ist die Vernunft aller Dinge und zwar die letzte der intelligiblen und im Intelligiblen befindlichen, die erste der in der ganzen sichtbaren Welt vorhandenen. Darum steht sie auch zu beiden in Verhältniss: von dem einen empfängt sie Wohltaten und neues Leben, von dem anderen wird sie durch die Aehnlichkeit getäuscht und wie bezaubert herabgezogen. In der Mitte befindlich nimmt sie beides wahr und man sagt, sie denke das Intelligible, indem[100] sie es sich ins Gedächtniss ruft, wenn sie mit ihm in Verbindung getreten; denn sie erkennt es dadurch, dass sie selbst es in gewisser Weise ist; sie erkennt es nämlich nicht dadurch dass sie es in sich hineinsetzt, sondern dadurch dass sie es gewissermassen hat und sieht und es in abgeschwächter Weise ist und aus dem dunkleren Zustand gleichsam durch ein Erwachen in ein helleres Licht tritt und aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergeht. Und indem sie die sinnlichen Dinge auf dieselbe Art gleichsam erfasst, so lässt sie auch diese gleichsam von sich her hervorleuchten und stellt sie durch ihr Wirken vor Anteil, wobei die Kraft willig mithilft und gleichsam mit ihnen kreist. Wenn sie nun mit aller Macht sich an irgend einen sichtbaren Gegenstand gemacht hat, so bleibt sie gleichwie von einem gegenwärtigen lange Zeit afficirt und je mehr desto länger. Daher sagt man auch von den Kindern, sie haben ein besseres Gedächtniss, weil sie den Gegenstand nicht alsbald verlassen, sondern derselbe mich vor Augen stellt, die da noch nicht auf vieles, sondern auf weniges sehen; die aber ihre Gedanken und ihre Kraft auf vieles richten, eilen gleichsam vorüber und bleiben nicht. Wenn die Eindrücke blieben, würde die Masse das Gedächtniss nicht schwächen. Ferner, wenn die Eindrücke bleibende wären, würden wir uns keine Mühe zu geben brauchen um uns zu erinnern oder uns später ins Gedächtniss zurückzurufen, was wir früher vergessen. Auch die Bemühungen um die Wiedererinnerung zeigen, dass das, was dadurch wieder vergegenwärtigt wird, eine Kräftigung der Seele ist, so wie die Uebungen der Hände und Füsse zur Ausführung dessen was nicht in den Händen und Füssen liegt, wozu sie aber durch fortgesetzte Uebung tüchtig gemacht werden. Denn warum erinnert man sich nicht was man einmal oder zweimal gehört hat, wohl aber, wenn man es oft gehört hat, in viel späterer Zeit auch dessen was man früher nicht behielt? Denn sicherlich geschieht dies nicht deshalb, weil man die Theile früher empfing als den Gesammteindruck (denn auch deren müsste man sich errinnern), sondern dies geschieht gleichsam plötzlich durch eine Wirkung des späteren Hörens oder Bemühens. Dies zeugt ja von einer Erregung der Kraft der Seele, durch welche wir uns erinnern, als die da gestärkt wird, sei es an sich oder zu diesem Zweck. Wenn uns aber das Gedächtniss nicht bloss die Dinge zuführt, um die wir uns bemühen, sondern wenn die, welche sich vieles ins Gedächtniss zurückrufen, weil sie sich gewöhnt haben Indicien zu verwerthen, auch die sogenannte Wiedervergegenwärtigung der[101] andern bereits leicht erreichen: welch andern und könnte dann jemand für das Gedächtniss anführen als die gestärkte Kraft der Seele? Denn die haften bleibenden Eindrücke würden mehr für eine Schwäche als eine Kraft der Seele zeugen. Denn was am meisten Eindrücke empfangen hat, ist so geworden durch Nachgehen, und da der Eindruck eine Affection ist, so würde was am meisten affecirt ist auch am meisten sich erinnern. Davon ergiebt sich aber das gerade Gegentheil. Denn nirgend macht die Uebung in irgend einem Stück das, was sich geübt hat, der Affection besonders leicht zugänglich; auch bei Sinneswahrnehmungen sieht ja nicht das Schwache, sondern dasjenige, dem eine grössere Kraft zur Wirksamkeit innewohnt. Darum sind auch die alten Leute von schwächeren Sinnen und ebenso von schwächerem Gedächtniss. Eine Kraft also ist sowohl die sinnliche Wahrnehmung als das Gedächtniss. Ferner, da die sinnlichen Wahrnehmungen keine Ein- und Abdrücke sind, wie können die Erinnerungen darin bestellen, dass sie zurückhalten was nicht im mindesten in sie hineingelegt worden? Allein wenn das Gedächtniss eine Kraft, eine Disposition ist, warum gelangen wir nicht auf einmal, sondern nach und nach zur Wiedererinnerung an dieselben Dinge? Weil man die Kraft gleichsam richten und zurüsten muss. Denn das sehen wir auch bei den andern Kräften, welche zugerüstet werden zur Vollbringung dessen, was sie vermögen, und es theils sofort, theils nachdem sie sich zusammengenommen ins Werk setzen. Es sind jedoch meistentheils nicht dieselben Menschen von gutem Gedächtniss und von scharfem Verstände, weil das beides nicht die nämliche Kraft ist, wie auch der Faustkämpfer nicht oft ein guter Läufer ist; denn es herrschen in dem einen diese, in dem andern jene Geisteskräfte vor. Indessen hindert nichts, dass jemand im Besitz irgendwelcher hervorragender Fähigkeiten der Seele das Vorliegende wieder erkenne, noch auch dass ein hier gleichsam Ueberfliessender unvermögend werde eine Affection zu erhalten und zu behalten. Auch dies, dass die Seele keine Grösse ist, beweist, dass sie eine Kraft ist. Ueberhaupt darf es nicht Wunder nehmen, dass es sich mit den Vorgängen in der Seele anders verhält als die Menschen wegen mangelnder Forschung annehmen oder als die ersten besten sinnlichen Eindrucke, die durch Aehnlichkeiten täuschen, es nahe legen. Denn sie meinen, mit Sinneswahrnehmungen und Erinnerung verhalte es sich ebenso wie mit Buchstaben, die auf Tafeln oder Blätter geschrieben sind, und weder die, welche sie für etwas Körperliches, noch die, welche sie für[102] etwas Unkörperliches halten, sehen, welche Unmöglichkeiten sich aus ihrer Hypothese ergeben.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 2, Berlin 1880, S. 98-103.
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