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[10] Verstehen wir überhaupt etwas von Revolution? Als Bakunin 1848 den Aufruhr in Dresden mit einer Niederbrennung aller öffentlichen Gebäude krönen wollte und auf Widerstand stieß, erklärte er »Die Deutschen sind zu dumm dazu« und ging seiner Wege. Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten. Nein, wir sind keine Revolutionäre. Keine Not, keine Presse, keine Partei kann einen ordnungswidrigen Sturm mit der Gewalt von 1813, 1870, 1914 hervorrufen. Von ein paar Narren und Strebern abgesehen, wirkte die Revolution auf jeden wie ein einstürzendes Haus, am tiefsten vielleicht auf die Sozialistenführer selbst. Es ist ohne Beispiel: sie hatten plötzlich, was sie seit 40 Jahren erstrebten, die volle Gewalt, und empfanden sie als Unglück. Dieselben Soldaten, die unter der schwarz-weiß-roten Fahne vier Jahre lang als Helden gefochten hatten, haben unter der roten nichts gewollt, nichts gewagt, nichts geleistet. Diese Revolution hat ihren Anhängern den echten Mut nicht gegeben, sondern genommen.

Das klassische Land westeuropäischer Revolutionen ist Frankreich. Der Schall tönender Worte, die Blutströme auf dem Straßenpflaster, la sainte guillotine, die wüsten Brandnächte, der Paradetod auf der Barrikade, die Orgien rasender Massen – das alles entspricht dem sadistischen Geist dieser Rasse. Was an symbolischen Worten und Akten zu einer vollständigen Revolution gehört, kommt aus Paris und ist von uns nur schlecht nachgeahmt worden. Wie ein proletarischer Aufstand unter feindlichen Kanonen aussieht, haben sie uns schon 1871 vorgeführt. Es wird nicht das einzige Mal gewesen sein.

Der Engländer sucht den inneren Feind von der Schwäche seiner Position zu überzeugen. Gelingt es nicht, so greift er ruhig zu Schwert und Revolver und zwingt ihn, ohne revolutionäre Melodramatik. Er schlägt seinem König den Kopf[11] ab, weil er dies Symbol instinktiv für notwendig hält; es ist für ihn eine Predigt ohne Worte. Der Franzose tut es – aus revanche, aus Freude an blutigen Szenen und mit dem geistreichen Kitzel, daß er gerade einen Königskopf daran wenden kann. Denn ohne Menschenköpfe auf Piken, Aristokraten an der Laterne, von Weibern geschlachtete Priester wäre er nicht zufrieden. Das Ergebnis der großen Tage kümmert ihn weniger. Der Engländer will den Zweck, der Franzose die Mittel.

Was wollten wir? Wir bringen es nur zu Karikaturen von beiderlei Art. Prinzipienreiter, Schulfüchse, Schwätzer in der Paulskirche und in Weimar, ein kleiner Spektakel auf der Gasse, ein Volk im Hintergrunde, das wenig beteiligt zusieht. Aber eine echte Revolution ist nur die eines ganzen Volkes, ein Aufschrei, ein eherner Griff, ein Zorn, ein Ziel.

Und das, diese deutsche sozialistische Revolution, fand 1914 statt. Sie vollzog sich in legitimen und militärischen Formen. Sie wird, in ihrer dem Durchschnitt kaum verständlichen Bedeutung, die Widerlichkeiten von 1918 langsam überwinden und als Faktor ihrer fortschreitenden Entwicklung einordnen.

Aber immerhin, im volkstümlichen Bilde der Geschichte wird nicht sie, sondern der Novemberaufstand künftig voranstehen. Man kann sich wohl ausmalen, wie im idealen Fall eine proletarische Revolution an dieser Stelle einzusetzen gehabt hätte. Und da enthüllt sich die überwältigende Feigheit und Minderwertigkeit des Elements, das der proletarische Gedanke zu seiner Verteidigung bereit fand. Auch die großen Revolutionen werden durch Blut und Eisen entschieden. Was hätten bedeutende Massenführer, was hätten die Independenten und Jakobiner in dieser Lage getan! Und die Marxisten? Sie hatten die Macht, sie hätten alles wagen dürfen. Ein großer Mann aus der Tiefe, und das ganze Volk wäre ihm gefolgt. Aber nie ist eine Massenbewegung durch die Erbärmlichkeit der Führer und Gefolgsleute elender in den Schmutz gezogen worden. Die Jakobiner waren bereit, alles andere zu opfern, weil sie sich selbst opferten: marcher volontiers,[12] les pieds dans le sang et dans les larmes, wie es St. Just formulierte. Sie kämpften gegen die Mehrheit im Innern und gegen halb Europa an der Front. Sie rissen alles mit. Sie schufen Heere aus dem Nichts, sie siegten ohne Offiziere, ohne Waffen. Hätten ihre Nachäffer von 1918 die rote Fahne an der Front entfaltet, den Kampf auf Leben und Tod gegen das Kapital erklärt; wären sie vorangegangen, um als die ersten zu fallen, sie hätten nicht nur das zu Tode erschöpfte Heer, die Offiziere vom ersten bis zum letzten, sie hätten auch den Westen mitgerissen. In solchen Augenblicken siegt man durch den eigenen Tod. Aber sie verkrochen sich; statt an die Spitze roter Heere stellten sie sich an die Spitze gutbezahlter Arbeiterräte. Statt der Schlachten gegen den Kapitalismus gewannen sie die gegen Proviantlager, Fensterscheiben und Staatskassen. Statt ihr Leben verkauften sie ihre Uniformen. An der Feigheit ist diese Revolution gescheitert. Jetzt ist es zu spät. Was in den Tagen des Waffenstillstandes und der Friedensunterzeichnung versäumt wurde, ist niemals nachzuholen. So sank das Ideal der Masse zu einer Reihe schmutziger Lohnerpressungen ohne Gegenleistung herab; auf Kosten des übrigen Volkes, der Bauern, der Beamten, der Geistigen zu schmarotzen, die Worte Rätesystem, Diktatur, Republik so oft an Stelle mangelnder Taten hinauszuschreien, daß sie in zwei Jahren lächerlich geworden sein werden, so weit reichte ihr Mut. Als einzige »Tat« erscheint der Fürstensturz, obwohl gerade die republikanische Regierungsform mit dem Sozialismus nicht das geringste zu tun hat.

Dies alles beweist, daß der »vierte Stand« – im tiefsten Sinne eine Negation1 – im Gegensatz und als Gegensatz zum übrigen Volke nicht aufbauend wirken kann. Es beweist, wenn dies die sozialistische Revolution war, daß das Proletariat nicht ihr vornehmster Träger ist. Mag kommen, was da will, diese Frage ist unwiderruflich entschieden. Die Klasse, welche Bebel für die Entscheidung herangezüchtet hatte, hat als Einheit versagt. Für immer, denn die verlorene Schwungkraft[13] läßt sich nicht wiedererwecken. Eine große Leidenschaft ist durch Erbitterung nicht zu ersetzen. Und die Verfechter des gestrigen Programms mögen sich nicht täuschen: sie werden den wertvollen Teil der Arbeiterschaft unwiderruflich verlieren und aus Führern einer großen Bewegung werden sie eines Tages zu wortreichen Helden von Vorstadtkrawallen gesunken sein. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.

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Unt. d. Abdl. II, S. 438 ff.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 10-14.
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