Eisenbahngeographie

[58] Eisenbahngeographie (géographie des chemins de fer), jener Teil der politischen Geographie, der sich mit der Darstellung und Erklärung der Eisenbahnnetze beschäftigt. Sie ist eine Unterabteilung der Verkehrsgeographie, die die Grundlagen, Mittel und Formen des Transportverkehrs erörtert, soweit diese im Zusammenhang mit den geographischen Erscheinungen stehen und sich auf sie zurückführen lassen. Das wichtigste Hilfsmittel der E. ist die Eisenbahnkarte (s.d.), die die Entwicklung der Eisenbahnen im Verhältnisse zur horizontalen und vertikalen Bodengliederung und zu den Wasserstraßen des Landes ersehen läßt. Die vertikale Bodengliederung macht sich geltend, indem alle bedeutenderen Gebirgszüge auch bedeutende Lücken der Eisenbahnnetze verursachen; Mittelgebirge und Hügellandschaften gestatten zwar dichtere Eisenbahnnetze, fordern aber doch viele und auffallende Krümmungen der Linien, während die Bahnnetze der Flachländer die geradesten und regelmäßigsten Linien aufweisen. Vergleicht man das Eisenbahnnetz mit dem Wasserstraßennetz, so ergibt sich ein Zusammenhang insofern, als die großen Wasserstraßen gern auch von Eisenbahnlinien begleitet werden. Das hat seinen Grund darin, daß die Wasserstraßen die älteren Verkehrswege sind; sie sind es, die schon Jahrhunderte vor den Eisenbahnen Städte und Handelsplätze entstehen ließen, die dann wieder das Bedürfnis nach Eisenbahnverbindungen erzeugten. Auch boten die Flußtäler zumeist den günstigsten Boden zur Führung einer neuen Eisenbahnlinie.

Alle reicher entwickelten Eisenbahnnetze zeigen eine größere Anzahl von Knotenpunkten. Durch diese Knotenpunkte sowie durch das Hervortreten der Hauptlinien, der Verdichtungen und der Lücken werden in allen[58] größeren Eisenbahnnetzen gewisse Gruppen geschaffen. Ihre kommerzielle Grundlage ist entweder eine herrschende Linie mit ihren Zweiglinien, oder ein bedeutender Knotenpunkt, oder eine durch natürliche Grenzen, bzw. durch getrennte Verwaltung kennbar von benachbarten Verkehrsgebieten abgeschiedene Fläche.

Von besonderer Bedeutung für die Gestaltung der festländischen Eisenbahnnetze sind die großen Seehäfen. Diese sind ausnahmslos zugleich die bedeutendsten Eisenbahnknotenpunkte. Sehr wichtig sind die Ein- und Ausfuhrhäfen für bestimmte Massengüter (Kohle, Erze, Baumwolle, Zucker u. dgl.). Aus der Lage der großen Häfen ergeben sich bestimmte Richtungen für die Hauptlinien der Eisenbahnen, vor allem für die senkrecht ins Land hineinführenden Linien.

Alle diese Beobachtungen sind, obgleich für die E. unumgänglich notwendig, doch rein äußerlicher Art. Inneres Leben erhalten sie erst, wenn man die Flächen und Punkte, die durch die Eisenbahnlinien durchschnitten und verbunden werden, mit ihrem volkswirtschaftlichen Inhalt erfüllt betrachtet, wenn man also übergeht zur Betrachtung der Produktionsgebiete und Produktionsmittelpunkte sowie der Konsumtionspunkte. Hierbei ergeben sich die mannigfachsten Beobachtungen.

Die Produktion mineralischer Rohstoffe ist durchgängig auf kleinere Gebiete zusammengedrängt und gibt in der Regel nicht für ganze Länder, sondern nur für einzelne Landesteile bestimmende Gründe für die Gestaltung der Eisenbahnnetze. Die Produktionsgebiete der vegetabilischen und animalischen Rohprodukte sind dagegen in der Regel weit ausgedehnt, sie erstrecken sich über große Länder, finden aber doch an einzelnen Stellen Plätze der Steigerung und Verdichtung. Die industriellen Produktionsgebiete sind in ihrer Gestaltung am unabhängigsten von den natürlichen Verkehrswegen, hängen dagegen mit den Eisenbahnen sehr innig zusammen.

Auch die Volksdichtigkeit, wie die Dichtigkeit und Größe der bewohnten Ortschaften stehen in engster Beziehung zu den Eisenbahnnetzen. In allen Kulturländern weisen die Verdichtungen und Knotenpunkte der Eisenbahnnetze auch auf Verdichtungen und Konzentrationspunkte der Bevölkerung hin, und wo man etwa einen Eisenbahnknotenpunkt mit noch geringer Bevölkerung findet, kann man zuversichtlich eine baldige Zunahme der letzteren voraussehen.

In das eisenbahngeographische Bild, das man durch die Eisenbahnkarte erhält, sind ferner die Angaben der Eisenbahnstatistik aufzunehmen. Was aus diesen die E. zunächst angeht, sind die Längen der einzelnen Linien. Besonders wichtig sind die Längenunterschiede von Wettbewerbslinien. Um sie drehen sich überhaupt die wichtigsten Fragen der E. Die Längenunterschiede müssen aber nicht für sich allein, sondern im Zusammenhang mit den Betriebsschwierigkeiten verglichen werden. So treten die ziffermäßigen Unterschiede der Steigungsverhältnisse als wichtigstes Moment neben die Längenunterschiede. Die E. kann aber weiters auch noch die statistischen Materialien über die Betriebsergebnisse heranziehen und mit ihrer Hilfe die Bedeutung der verschiedenen Linien für den Personen- und Güterverkehr untersuchen. Diese Bedeutung wird wohl auch kartographisch zur Darstellung gebracht.

Zieht man auch die Fahrpläne mit in die Betrachtung herein, so ergeben sich daraus, im Zusammenhange mit den geographischen Verhältnissen, die kürzesten, besten Eisenbahnverbindungen, vor allem die für den Weltverkehr in Betracht kommenden kürzesten Linien.

Weniger wichtig, obgleich auch nicht zu vernachlässigen, ist die Darstellung der Unternehmerverhältnisse in ihren geographischen Unterschieden. Sie hat zu zeigen, wie sich die Eisenbahnnetze in Linien der Privat- und Staatsbahnen gliedern, welche Teile der Bahnnetze von dieser und jener Unternehmung beherrscht werden. Das wird besonders bedeutungsvoll bei den Eisenbahnnetzen, wo die Privatunternehmung vorwiegt, wie namentlich in Nordamerika und England. Dort zeigt die E., wie einzelne Landesteile mit ihren wichtigsten wirtschaftlichen Interessen von den Bahnnetzen einzelner mächtiger Gesellschaften heherrscht sind.

Endlich darf aber die E. auch die geschichtliche Entwicklung der Eisenbahnnetze nicht außer acht lassen. Betrachtet man die Eisenbahnkarte eines Gebiets in ihrer allmählichen Vervollkommnung, so sieht man, wie zuerst einzelne Linien und aus ihrer Vereinigung und Vermehrung allmählich ganze Netze entstehen, die sich über die Länder ausbreiten, mehr und mehr sich verdichten, Anschlüsse finden und auch in ihrer letzten Vervollkommnung noch größere und kleinere Lücken zeigen. Jeder einzelne Faden dieser Netze verdankt seine Entstehung einem bestimmten Verkehrsbedürfnis. Das Verkehrsbedürfnis ist aber immer dort am größten,[59] wo die meisten und schwersten Lasten mit größter Schnelligkeit befördert werden sollen. Deshalb sieht man Eisenbahnen zuerst dort entstehen, wo Baumaterial und Bergwerksprodukte in großen Massen Beförderung verlangen. In England finden wir die ersten Anfänge des dortigen Eisenbahnnetzes in den Kohlendistrikten; in Deutschland (freilich noch als Pferdebahnen) in den Kohlengebieten der Ruhr- und Saargegend; in Österreich dient die erste Pferdebahn (Gmunden-Budweis) dem Salztransport. Seit aber die Lokomotive sich für rasche Beförderung geeignet zeigte, entstehen Bahnlinien auch zwischen nahe gelegenen belebten Städten für den Personenverkehr. So die ersten europäischen Personenbahnen: Liverpool-Manchester, Leipzig-Dresden, Berlin-Postdam, Nürnberg-Fürth, Paris-St. Germain. In dieser ersten Zeit spannen sich die Bahnlinien von Stadt zu Stadt, allenfalls vom Mittelpunkt eines Landes zur Hauptstadt des Nachbarlandes; aber auch mit vielfachen Krümmungen und Umwegen, um die dazwischen liegenden mittleren und kleinen Städte zu berücksichtigen. Mit der Entstehung der ersten Knotenpunkte zeigen sich auch die Anfänge von Eisenbahnnetzen. Aber lange Jahre begnügte man sich bloß mit der Ausfüllung der auffallendsten Lücken dieser Netze, ehe man daran ging, die großen Weltverkehrslinien zu bauen, die ohne Rücksicht auf die Nachbarschaft von Mittelstädten in möglichst geraden Linien die Zentralpunkte des Weltverkehrs zu berühren streben. Besonders wichtig sind die transkontinentalen Linien, die zwei Meere durch Ländermassen hindurch verbinden (z.B. die Sibirische Bahn, die Transandinische Bahn, die Pacific-Bahnen u.s.w.).

Literatur: Wiß, Das Ges. der Bevölkerung und die Eisenbahnen. Berlin 1867. – Neumann, Das Verkehrswesen der Welt. Wien 1869. – R. Andree, Handels- und Verkehrsgeographie. 1871. – Haushofer, Eisenbahngeographie. Stuttgart 1875. – K. Andree, Geographie des Welthandels. 1877. – v. Südenhorst, Die Eisenbahnverbindungen Zentraleuropas mit dem Orient. Wien 1878. – Neumann-Spallart, Übersichten der Weltwirtschaft. Berlin 1887. – Behm, Die Verkehrsmittel (19. Ergänzungsheft zu Petermanns Mitteilungen). Sehr wertvolles Material enthalten ferner die Eisenbahnkursbücher.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 4. Berlin, Wien 1913, S. 58-60.
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