Aegypten

[20] Aegypten. Das uralte mächtige Reich, welches die Pharaonen und Ptolemäer beherrschten, hatte in seiner grössten Ausdehnung ungefähr 6000 Quadratmeilen; es liegt in der nordöstlichsten Ecke von Africa, ist von dem breiten Nil, dem es seinen ganzen Segen verdankt, in seiner vollen Lange durchströmt, und von zwei Gebirgen gegen Osten und Westen begränzt. Die üppigste Fruchtbarkeit wohnt hier neben den schrecklichsten Erscheinungen der Wüste: im Nilthal ein unerschöpflicher Boden, ausserhalb desselben eine dürre, unendliche Sandebene. Diese Gegensätze prägten sich in den Bewohnern aus, und gaben der Mythologie des Landes ihre eigenthümliche Richtung. - Der Raum zwischen der östlichen und westlichen Bergkette hat eine Breite von 3 bis 4 Meilen, gegen Norden öffnet sich das Land, die Berge treten zurück, der Nil hat sich aus seinem eigenen Schlamm eine Gränze gebildet, welche er nur mit Mühe überschreitet, das Delta zwischen den zahlreichen Mündungen des mächtigen Stromes; ehemals so bedeckt mit unzähligen Städten, wie jetzt mit Ruinen. Jeder Fuss breit Landes war benutzt - weil nur wenig Boden da war - darum gab es auch keine Begräbnissplätze, sondern Begräbnisshöhlen in dem westlichen Gebirge, welches das Land vor der Wüste verwahrte; während der östliche Strich die Steine zu den noch jetzt Bewunderung und Staunen erregenden Bauwerken lieferte, deren Masse, deren Zahl und deren Grösse stieg, je weiter man aufwärts an dem Strome kam. Die ungeheuren Pyramiden, und die, ganze Tagereisen lange Strecken bedeckenden Tempeltrümmer, danken alle der Eigenthümlichkeit des Landes ihr Entstehen. Die Todtenwohnungen sollten geschützt werden vor dem Eindringen des Wassers, die Priesterwohnungen vor dem Eindringen der Sonnenglut, daher diese Aufhäufung der gewaltigsten Massen, daher ein Cultus, welcher die Haupterscheinungen des Jahreswechsels zum Fundament hat. - Die alten Griechen und Römer geben an, dass der Urstamm der Bewohner negerartig, mit krausem wolligem Haar, gewesen sei, und auf vielen der alten Intaglios - (Bildwerke im Gegensatz von Relief, nicht erhaben auf dem Stein ausgearbeitet, sondern vertieft), welche die Tempelruinen bedecken und durch den Sand der Wüste vor der Zerstörung geschützt sind, erblickt man wirklich unzählige Gestalten, welche ganz eine Negerphysiognomie, und wo die Luft oder Menschenhand das Pigment nicht weggewischt, auch noch die Farbe der Neger tragen. Zu diesen Schwarzen wanderte ein hellfarbiger Stamm aus Meroë ein, welcher in politischer und religiöser Hinsicht der herrschende ward, aber wahrscheinlich nicht auf jener mächtigen Nilhalbinsel zu Hause war, sondern aus Indien Weisheit und Cultur dahingebracht hatte; eine Meinung, welche sich nach dem berühmten Feldzuge in A. (unter Napoleon) auffallend bestätigte. - Jene Bewohner von Meroë brachten die Kasten - Eintheilung nach A. Die Priester - Kaste war im Besitz aller Wissenschaft, Kunst und Geschicklichkeit, stand den Königen, ihre Gewalt vielfach beschränkend, zur Seite und verwaltete alle Staats - Aemter. Das Volk ward von den Priestern in Krieger, Kaufleute, Gewerbetreibende, Ackerbauer, Hirten und Schiffer getheilt. - Anfangs war das Land in kleinere Königreiche getheilt; sie waren durch Priester-Colonien entstanden, welche von Meroë kamen, Tempel und Städte gründeten, sich die rothen Einwohner unterwarfen, und als das ganze Land unter einem Herrscher vereint war, das Land in 36 Nomen (Kreise) eintheilten. Das tropische Klima, das regelmässige Steigen und Fallen des Segen bringenden Nil, die Abhängigkeit dieser Erscheinungen von den Jahreszeiten etc. musste bei dem Urvolke eine Religion erzeugen, welche sich auf Pflanzen-, Thier- und Sternen-Dienst gründete, wobei das Wohlthätigste, der Nil selbst, der grösste Fetisch ward. Nun kamen die fremden Priester, brachten eine neue Mythologie mit, modificirten aber dieselbe nach dem schon vorhandenen, und neben dem rohen Fetischismus entwickelte sich eine Priesterreligion, welche sich in ihren Symbolen genau mit jener bestehenden verband, die Verehrung der heiligen Thiere dadurch, dass ihnen höhere Begriffe unterlegt wurden, sanctionirte, aber auch die Hauptgottheiten, Isis und Osiris, als Geber alles Guten einführte, und ihrem Dienst alles andere unterwarf. - Der Ackerbau war die wichtigste Beschäftigung des Aegypters, darum mussten sich seine Gottheiten hauptsächlich auf diesen beziehen und den Landmann lehren, das Nomadenleben, welches der Cultur so sehr hinderlich ist, zu verlassen. - Die richtige genaue Bestimmung der Jahreszeiten war das erste Bedürfniss für den Ackerbau treibenden Staat, dessen Gedeihen von der periodisch wiederkehrenden Nilfluth abhing. Daher die vorgerückte Kenntniss der Gestirne, der Astronomie überhaupt; und aus der Notwendigkeit, gewisse Erscheinungen mit Bestimmtheit voraussagen zu können, erklärt sich der Wunsch, diese Prognostica noch weiter auszudehnen, und so entstand die Astrologie, welche den grössten Einfluss auf das practische Leben erhielt. - Die alten Aegypter dachten sich eine Classe von Göttern, welche, als der erste Ausfluss des alleinigen, höchsten Gottes, erhaben stehen über dem irdischen Sein, und noch nicht in die Körperwelt eingetreten sind: Kneph, das Urlicht, das überall vorwaltende befruchtende Princip; Athor, die Urnacht, das älteste empfangende, urweibliche Princip; Phtha, das Urfeuer, der erste Odem, Lebenshauch - und das zweite männliche Princip, vergesellschaftet mit der goldenen Venus, dem zweiten Weiblichen, Empfangenden; Mendes, das Erzeugende im dritten Grade (der Himmel oder Pan, oder der Phallus des Phtha) und Neïth, das Weibliche in dritter Abstufung, die aus der Feuchtigkeit aufgestiegene[20] Erde; ferner Sonne und Mond als zeugende und empfangende Kraft im vierten Grade. Osiris und Isis sind die angebeteten Beherrscher des Reichs; allein die Mensch gewordenen Götter sind allen Gebrechen, allen Unbilden der Menschennatur ausgesetzt, darum haben sie auch von dem bösen Typhon viel zu dulden, unterliegen ihm eine Zeit lang, besiegen ihn aber endlich vollständig. In dem Stiere Apis wird der Entwilderer der Menschheit, der Lehrer des Ackerbaues, in dem Bock Mendes der Ernährer, der Hüter des Viehes, im Crocodil der gefährliche Feind des Fischers, im Ichneumon der Vertilger dieses Feindes, in der Schlange die Feindin der Reisfelder, in dem Ibis der wohlthätige Vogel, welcher die junge Brut dieses bösen Wesens verzehrt etc. etc. angebetet; vor allen aber ist der Nil ein Gegenstand der höchsten Verehrung. - Wie die alten Traditionen fast aller Völker, sprechen auch die der Aegypter von einem frühesten Unschuldszustand. Allein die menschliche Natur war nicht rein genug, um den Lockungen des Sinnenreiches zu widerstehen; die Begierde zog sie in die tieferen Sphären des Irdischen, und zur Strafe wurden sie in irdische Körper eingeschlossen, um durch einen Jahrtausende dauernden Kampf mit den Uebeln der Materie sich wieder zu reinigen, bis wohin sie in der Körperwelt, und den Gesetzen derselben vollkommen unterworfen, von Geschöpf zu Geschöpf wandern, um endlich, durch solch eine Prüfung geheiligt, reif zu werden zur Wiederkehr in den Himmel. Muthmasslich war indessen dieser Glaube an Seelenwanderung bloss Eigenthum der Priesterkaste, denn sonst bliebe der Widerspruch zwischen einem solchen Volksglauben und der allgemein herrschenden Sitte der Einbalsamirung der Todten unerklärbar, durch welche die Aegypter offenbar die Fortdauer des menschlichen Individuums als gebunden an die Fortdauer der körperlichen Hülle bezeichneten. Die einbalsamirten Leichname, Mumien, wurden theils in grossen Begräbniss-Grüften beigesetzt, theils von den Angehörigen im eigenen Hause verwahrt, ja sogar bei Gastmählern ausdrücklich zu dem Zwecke herbeigebracht, um die Gäste fröhlich zu stimmen, worin der Glaube sich ausspricht, dass die Gewissheit, auf solche Weise unaufhörlich fortzudauern, der grösste Trost gegen alle Uebel sei. - Das Leben der jetzt bestehenden Welt dauert, nach der Mythologie der Aegypter, ein grosses Jahr - eine astronomische Periode von 36,525 gewöhnlichen Sonnenjahren. Ein ungeheurer Brand verzehrt dann das Vorhandene; eine neue, verjüngte Welt geht aus der Asche der zertrümmerten hervor. Ihr Kalender war genau ausgebildet, die Jahreslänge von 365 1/4 Tagen hatten die Aegypter gefunden, und sie führte zu der sogenannten Sothis-Periode von 1461 Jahren, nach welcher der Sirius (bei den Aegyptern Sothis) wieder am ersten Tage des Jahres vor der Sonne aufging. Auch die Periode von 25 Jahren, nach welcher Neu- und Vollmonde wieder auf dieselben Tage des Jahres fallen, war ihnen bekannt. Planeten zählten sie sieben, nämlich Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Mercur, Mond. Diese Planeten waren die Beherrscher der Tagesstunden, so dass der erste den ganzen Tag, die folgenden aber immer eine Stunde nach der andern regierten. So haben nun denn schon hier unsere sieben Wochentage vom Sonnabend angefangen, wie sie in Griechenland, Rom, und von da aus in ganz Europa noch jetz genannt werden. - Die Priester-Kaste, deren Geschäft es war, alle Beobachtungen zu machen, aufzubewahren und in Denkmälern auf die Nachwelt zu bringen, setzte ihre Erfindungen und die Erfinder, oder die Heroen jener Zeit, die Wohlthäter der Menschheit, in Sterngruppen an den Himmel - so bevölkerte derselbe sich bald mit Menschen und Thieren, welche letzteren zu Symbolen der Götter umgeformt wurden, bis endlich die Götter selbst in Thiergestalt erschienen; auf Holz und Stein, auf Papyrus und Pergament wurden nun diese Thiergestalten mit anderen Zeichen, Attributen, oder ihre Eigenschaften näher bestimmenden Gegenständen gezeichnet, und es entwickelte sich aus diesen Göttervorstellungen eine Thierschrift, eine Hieroglyphenschrift: Hermes oder Thot (Thaut), d.h. die Priestercorporation, hatte sie den Menschen überliefert. Wie früh die Bewohner A.s übrigens diese ersten Schritte schon gemacht haben, so scheinen sie doch stehen geblieben zu sein, wie die Chinesen; das einmal Bestehende war ihnen unantastbar, und höchstens konnte es eine etwas veränderte Einkleidung erhalten: eine Erscheinung, wie sie uns bei allen morgenländischen Nationen noch bis auf den heutigen Tag entgegentritt.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 20-21.
Lizenz:
Faksimiles:
20 | 21

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.

188 Seiten, 6.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon