Das Mädchen von Orleans

[314] Das Mädchen von Orleans, hieß eigentlich Johanna von Arc, und war eine um das Jahr 1412 geborne Bänerin aus Domremy in Champagne. Frankreich wurde damahls von Englischen Kriegsvölkern verwüstet, und war in Gefahr, seine eigne Selbstständigkeit zu verlieren. Von den festen Plätzen ging einer nach dem andern an die Engländer über; und eben glaubte man, daß auch Orleans fallen würde, als Johanna von Arc im Jahr 1429 es an der Spitze eine Armee zu entsetzen wagte. Dieses Mädchen hatte schon das Jahr vorher darauf bestanden, daß sie vermöge einer göttlichen Offenbarung dazu bestimmt sei, den Dauphin – der unter dem Namen Carl VII. nachher den Französischen Thron bestieg – aus den Händen seiner Feinde zu erretten und ihm den Besitz des Thrones wieder zu verschaffen. Lange konnten sich der Dauphin und seine Getreuen nicht entschließen, ihr Gehör zu geben; endlich aber, da ohnedieß alles verloren zu sein schien, willigte man ein, und gab ihr ein Commando. Orleans wurde entsetzt, mehrere Städte folgten; und in wenig Monathen konnte Carl sich in Reims krönen lassen, wie ihm das Mädchen voraus gesagt hatte. Man hoffte die Feinde leicht aus ihren übrigen Besitzungen zu vertreiben; es geschah auch endlich, aber Johanna von Arc büßte dabei ihr Leben ein. Bei der Belagerung von Compiegne siel sie den Engländern in die Hände, welche ihr als einer angeblichen [314] Zauberin den Prozeß machten, und sie zu Rouen am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Man hat viele Muthmaßungen über diese Heldin gewagt; am wahrscheinlichsten ist immer die Meinung, daß die ganze Sache ein Streich der Politik war, welchen einige Hofleute ersonnen hatten, um den Dauphin und das Kriegsheer aus der Unthätigkeit zu wecken. Die Gegenwart eines edeln und tapfern Mädchens, die die Gefahren des Todes verachtete, mußte unter muthlosen Kriegern ganz ungewöhnliche Wirkungen hervorbringen und sie zu neuen Heldenthaten beleben. Aber schändlich war es, daß man nichts für ihre Rettung that, als sie den Engländern in die Hände gefallen war. Diese unbegreifliche Gleichgültigkeit floß unstreitig aus einer geheimen Eifersucht der Großen, die sie um ihren Ruhm beneideten. Sie starb mit Standhaftigkeit: ihr Andenken wurde auf verschiedene Art geehrt; und Voltaire entlehnte in neuern Zeiten aus ihrem Leben und ihren Thaten den Stoff zu einem komischen Heldengedicht, welches unter dem Namen das Mädchen von Orleans bekannt ist.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 314-315.
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