Wahlcapitulation

[358] Wahlcapitulation nennt man 1) im weitläufigen Sinne: den Inbegriff derjenigen Pflichten, zu deren Beobachtung ein Regent, besonders in einem Wahlreiche (s. dies. Art.), sich bei Antritt seiner Regierung gegen seine Stände verbindlich macht; 2) derjenige Vertrag, den die Stifte mit ihrem Prälaten (s. Stift und Sedisvacanz) bei seiner Wahl abschließen, durch welchen die Verhältnisse des Prälaten und Capitels gegen einander genauer bestimmt werden. Eine solche Wahlcapitulation, oder, wie sie auch bloß genennt wird, Capitulation, durfte, so lange die Deutsche Reichs-Verfassung bestand, nichts gegen diese und gegen das Wesen der bischöflichen Gewalt enthalten, oder wurde außerdem, wenn etwas der Art von dem Prälaten bei seiner Wahl versprochen und unterschrieben worden war, entweder vom Kaiser, in so fern es die weltliche Gewalt (temporalia) des Prälaten betraf, oder, in so fern es geistliche Sachen betraf, vom Papst für ungültig erklärt, obwohl übrigens die Landeshoheit des Prälaten in einzelnen Stücken durch die Capitulation eingeschränkt werden konnte; 3) verstand man im engern Sinne unter Wahlcapitulation den zwischen dem Deutschen Kaiser und den Churfürsten im Namen des Deutschen Reichs abgeschlossenen Vertrag, durch welchen die Rechte und Grenzen der kaiserlichen Gewalt bestimmt wurden. – Sie war eines der Reichsgrundgesetze1, d. h. ein solches, durch welches die Ausübung der kaiserlichen Gewalt in Ansehung der einzelnen Theile der Regierung festgesetzt war. – Schon in den älteren Zeiten pflegte man den Deutschen Kaiser auf die Gesetze und die Verfassung zu verpflichten, und ihm gewisse Punkte schriftlich vorzulegen; [358] allein erst unter Carl V. kam die Wahlcapitulation völlig zu Stande. Kaiser Maximilian I. († 1519) wünschte nehmlich seinen Neffen, Carl I. König von Spanien (der als Kaiser Carl V. hieß), zum Nachfolger auf den Kaiserthron; allein die Reichsstände wollten (da schon Maximilian manche eigenmächtige Handlungen sich erlaubt hatte, und dieß von Carl V. als einem mächtigen Herrn, noch mehr zu befürchten war) Maximilians Wunsch nur unter der Bedingung erfüllen, wenn Carl bei seiner Wahl gewisse Puncte unterschriebe. Sie schickten, auf des Churfürsten von Sachsen Friedrichs III. des Weisen († 1525) (der die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlug und Carln zum Kaiser vorschlug), Anrathen, diesem eine Capitulation zu, zu deren Erfüllung sich Carl auch verbindlich machte. Seit dieser Zeit wurde die Wahlcapitulation gewöhnlich und jedem neu erwählten Römischen König2 oder Kaiser gleich bei der Wahl vorgelegt, und er mußte sie nach der Wahl unterschreiben und beschwören. Bis auf Rudolph II. († 1612) wurde die Wahlcapitulation von den Churfürsten ohne Widerspruch der übrigen Reichsstände allein verfertiget, da hingegen bei der Wahl des Kaisers Matthias 1612 die übrigen Deutschen Fürsten an ihr, als einem Reichsgrundgesetze, ebenfalls Antheil nehmen wollten; auch jetzt verfertigten die Churfürsten solche allein. Bei den Westphälischen Friedensunterhandlungen machten darauf die Deutschen Fürsten den Antrag: daß eine beständige Wahlcapitulation entworfen, solche in [359] das Friedensinstrument aufgenommen, und der jedesmahlige Kaiser auf dieselbe von den Churfürsten vereidet werden sollte; allein dieser Vorschlag kam nicht zu Stande. Im Jahr 1664 brachten die Churfürsten einen Entwurf zu einer solchen beständigen Wahlcapitulation auf den Reichstag (s. dies. Art.); da sie ihn aber bloß in ihrem Namen abgefaßt und sich das Recht vorbehalten hatten, nach Zeit und Umständen Zusätze zur Wahlcapitulation zu machen (ius adcapitulandi), so wollten die übrigen Fürsten solches nicht zugeben. Eben dieß geschah 1711, als dieser Entwurf auf dem Reichstage zur Dictatur (s. Th. IV. S. 145.) gebracht wurde. Die Churfürsten legten aber doch bei der Wahlcapitulation Carls VI. († 1740) und den nachfolgenden Kaisern diesen, zur Dictatur gekommenen, Entwurf zum Grunde, und änderten nur bei jeder Wahl etwas. Seitdem jedoch die Fürsten den Plan hatten, daß eine beständige Wahlcapitulation entworfen werden sollte, pflegten sie allezeit allen denjenigen Stellen der Wahlcapitulation, die nicht in den ältern Wahlcapitulationen vor Carls VI. Zeiten und in dem Project von 1711 standen, zu widersprechen und gegen dieselben zu protestiren; und diese Stellen allein, die man widersprochene Puncte (passus contradictos) nannte, waren für die Fürsten nicht verbindlich, wohl aber für den Kaiser und die Churfürsten, da hingegen die Wahlcapitulation in allen übrigen Puncten ein allgemein verbindliches Reichsgesetz war.


Fußnoten

1 Ueberhaupt waren 5 Reichsgrund- oder Fundamenmental-Gesetze, nehmlich: 1) die goldne Bulle (s. dies. Art.), 2) der Landfriede (s. Fehde), 3) der Religionsfriede (s. dies Art., 4) der Westphälische Friede, und 5) die kaiserliche Wahlcapitulation.


2 Der Name Römischer König kommt in der Geschichte des Deutschen Reichs in dreifachem Sinne vor: 1) Da in den ältesten Zeiten ein Deutscher Kaiser auch von dem Papste in Rom gekrönt werden mußte – eine Anmaßung des Papsts, die sich von Pipins des Kleinen und Carls des Großen (s. dies Art) Krönung herschrieb –; so hieß ein in Deutschland gewählter und gekrönter Deutscher Kaiser, der in Rom die Krönung noch nicht, oder gar nicht erhalten hatte, bloß Römischer König. 2) Als die Krönung in Rom wegfiel, hieß Römischer König jeder neu gewählte Kaiser vom Tage seiner Wahl, bis zum Tage seiner Krönung. Im eigentlichsten Sinne aber nannte man 3) Römischen König denjenigen Fürsten, der, noch bei dem Leben des Kaisers, zu dessen Nachfolger erwählt wurde So wurde z. B. Kaiser Joseph der Zweite (s. dies. Art) bereits 1764, da Kaiser Franz der Erste noch lebte, zum Römischen König, und erst im folgenden Jahre, da Franz plötzlich starb, zum Kaiser gewählt.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 358-360.
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