Johann Caspar Lavater

[548] Johann Caspar Lavater, dieser seltene Mann, von ungewöhnlichen Gaben und Kräften, wurde zu Zürich d. 17. Nov. 1741 geboren. Sein Name wird in der Geschichte der Kultur und der Verirrungen des letzten Jahrhunderts immer mit Auszeichnung genannt werden. Unleugbar ist sein Feuereifer für alles, was er als Wahrheit anerkannt und zu seiner Sache gemacht hatte; unleugbar sein unerschrockenes Ankämpfen gegen alle Tyrannei. Mit Tyrannenhaß begann und endete er seine Laufbahn. – Als Knabe gutherzig, aber weinerlich und furchtsam, beschäftigte er sich mehr mit Spielerei, mit allerhand Wachsbildnerei, mit mathematischen und physischen Jugendspielen u. d. gl. ohne einige besondere Anlagen oder vorzügliche Geistesgaben blicken zu lassen, doch wurde sein Eifer für die Wissenschaften in den höhern Schulklassen [548] durch Bodmer, Breitinger etc. mehr beseelt. Als Jüngling kämpfte er mit seinem Freund Heinrich Füßli (dem berühmten Maler in England) gegen den Landvogt Grebel und dessen verkäufliche Niederträchtigkeit durch eine gegen diesen in Druck gegebene Klagschrift, und machte sich schon da durch diesen Haß der Tyrannei, durch den Muth, mit welchem er und sein Freund es wagten, ein mit den vornehmsten Familien so genau verbundenes Regierungsglied anzugreifen, für Zürich unvergeßlich. Er verließ 1763 auf einige Jahre seine Vaterstadt, reiste mit Heß und Füßli über Leipzig (wo er Ernesti, Zollikofer, Gellert etc. kennen lernte) und über Magdeburg (wo er Gleim sah) nach Berlin, brachte hier einige Monate zu und eilte nun besonders zu Spalding nach Barth (in Schwedisch-Pommern), dessen Besuch ein Hauptzweck seiner Reise war, und gewann bei diesem außerordentlich an völliger Ausbildung seines Genies. In seine Vaterstadt (1764) zurückgekehrt, ward er bald nachher (1769) Diaconus und 1775 Pfarrer im Waisenhause, 1778 Diaconus und 1786 Pfarrer bei St. Peter, nachdem er einen sehr ehrenvollen Ruf nach Bremen ausgeschlagen hatte. Sein öffentlicher Vortrag wurde durch den Herzenserguß, durch Salbung in Stimme, Mienen und Gebehrden so hinreißend und unwiderstehlich, daß sein Ruf als Kanzelredner bald allenthalben hindrang, obgleich sein Eifer und seine Phantasie ihn oft zu Unschicklichkeiten hinrissen. Jede Gelegenheit, jedes auffallende Ereigniß gab ihm willkommenen Stoff zu Casualreden: ein zweifelhafter Mord, eine vermuthete Nachtmahlsvergiftung, Calabriens Erdbeben, Suworows Siege – alles ergriff er mit Freuden, um sich darüber auf der Kanzel herauszulassen, wenn auch schon manche große Verdrüßlichkeiten für ihn daraus entstanden. Indessen gründete sich sein größter Ruhm, besonders im Auslande, auf seine bekannte Liebhaberei zur Physiognomik (s. d. Art.). Er glaubte gewiß überzeugt zu sein, aus den Gesichtszügen der Menschen ihr Inneres ablesen zu können; und seine physiognomischen Fragmente (deren 1. Theil 1775 erschien) spielten in der Geschichte [549] der deutschen Literatur und Kunst eine eigne Rolle. Aber auch hier war seine ungezügelte Phantasie wieder zu geschäftig, und ließ ihn Schönheiten und Fehler da entdecken, wo kein Unbefangener sie je finden konnte. Als zu Ende des 18. Jahrhunderts auch die Schweiz den Einfluß jener politischen furchtbaren Ereignisse hart fühlen mußte, wurde auch Lavater, wie sich schon von selbst errathen läßt, von seinem Feuereifer ergriffen, und da, wo jeder vor den Erpressungen der damaligen französischen Machthaber bebte und schwieg, schrieb Er seinen Aufruf an Frankreichs Machthaber, predigte die Rechte der Völker und der Menschheit, und wurde nun dafür am 16. Mai 1799 als angeblicher Aufruhrprediger seiner Gemeinde entrissen und nach Basel fortgeschleppt. Zwar kam er nach einigen Monaten wieder los und in seine Vaterstadt zurück; allein im September desselben Jahres wurde er, bei der Wiedereroberung Zürichs durch Massena, von einem Soldaten mörderisch angefallen und tödlich verwundet. Schon hier sagte er seinen Märtyrertod voraus, der auch, nach unsäglichen auf 15 Monate hindurch währenden Schmerzen und den schrecklichsten körperlichen Leiden, aber unter bewundernswürdiger Ergebung, Standhaftigkeit und Heiterkeit des Geistes, am 2. Jan. 1801 in seinem 60sten Jahre erfolgte. – Groß und edel war sein Charakter; Toleranz, nie zu ermüdende Versöhnlichkeit und Friedensliebe waren die Hauptzüge desselben. Seine mannigfachen Fehler und Verirrungen entsprangen aus einer zu großen Herrschaft seiner Phantasie, aus dem ewigen Streben, seinen Wirkungskreis nach allen Seiten zu erweitern etc. Aber gewiß verdienten jene Fehler nicht die lieblose Härte und Bitterkeit (z. B. in Ansehung des ihm gemachten Vorwurfs des Katholicismus u. s. w.), mit der sie ihm vorgehalten und mit den gehässigsten Farben ausgemalt wurden. Seine Eitelkeit, welche durch die auffallendste Verehrung und Huldigung, mit der man ihn, namentlich auf seiner ersten Reise nach dem Norden (nach Bremen) gleichsam überschüttete und bestürmte, natürlich viel Nahrung fand, verleitete ihn freilich zu manchen Schwachheiten [550] (z. B. zu einem gewissen heiligen Ansehn, das er sich gab), welche seinen Gegnern Stoff zu lieblosem Tadel und Spötteleien darboten. – Die Quelle seiner excentrischen Visionen und wundersüchtigen Behauptungen im Fache der Dogmatik und Bibelerklärung muß man in dem Mangel an gründlicher Sprachkenntniß suchen; dennoch enthalten seine Schriften in diesem Fache (seine Aussichten in die Ewigkeit, Jesus Messias, Pontius Pilatus etc.) einen Schatz von Menschenkenntniß und Tiefblick in das menschliche Herz. – Als Dichter kann Lavater wohl nur eine untergeordnete Stelle behaupten. Zwar weiß er hie und da von dem Herzen zu dem Herzen zu sprechen, besonders ist dies wohl der Fall in seinen Schweizerliedern, welche den edelsten, reinsten Patriotismus athmen, und wo sein für Freiheit und Vaterland glühendes Herz unverkennbar ist; eben so sind mehrere seiner geistlichen Lieder in Rücksicht des einfachen herzlichen Ausdrucks würdig, in jede religiöse Liedersammlung aufgenommen zu werden; indessen wird man eigentliche Tiefe und Kraft des Geistes, das wirklich Große und Erhabene, was in epischen und lyrischen Gedichten Erforderniß ist, in den Lavaterschen vermissen, so weit er auch oft seine Phantasie umherschwärmen läßt, und sich in einer Masse von Worten und Figuren verliert. Dies ist der Fall selbst in seiner Prosa, so sehr er auch als Kanzelredner die höchste Wirkung hervorzubringen wußte.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 7. Amsterdam 1809, S. 548-551.
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