[265] Lavāter, 1) Johann Kaspar, eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten der deutschen Sturm- und Drangperiode, geb. 15. Nov. 1741 in Zürich als Sohn eines Arztes, gest. daselbst 2. Jan. 1801, besuchte seit 1754 das akademische Gymnasium seiner Vaterstadt, wo Bodmer und Breitinger seine Lehrer waren, und nahm, für den geistlichen Stand bestimmt, frühzeitig eine asketisch-mystische Richtung an, der er im wesentlichen sein ganzes Leben lang treu blieb. Einen Beweis kühnen Mutes legte er um jene Zeit durch eine Schrift gegen das tyrannische und ungerechte Treiben des Landvogts Grebel (1762) ab, die großes Auf sehen machte, ihm aber zugleich die Feindschaft der ganzen Züricher Aristokratie zuzog. Darauf unternahm er (1763) mit seinem Freund H. Füßli ei ve Reise nach Norddeutschland, um sich bei dem Prediger Spalding zu Barth in Schwedisch-Pommern für das geistliche Amt weiter auszubilden, wurde auf dieser mit vielen bedeutenden Männern (darunter Sulzer, Ernesti, Gellert, Öser, Moses Mendelssohn, Klopstock, Jerusalem, Moser) bekannt und begann in Barth, wo er acht Monate zubrachte, seine schriftstellerische Laufbahn zunächst mit kritischen Arbeiten. Auch dichtete er damals seine berühmten »Schweizerlieder«, die erst später (Bern 1767) im Druck erschienen. Nach seiner Rückkehr nach Zürich (1764) erregte er überall Aufsehen durch seine glänzende Beredsamkeit als Prediger; er wurde 1769 Diakonus und 1775 Pastor an der Waisenhauskirche daselbst, 1778 Diakon und 1786 Pastor an der Peterskirche und zugleich Mitglied des Konsistoriums. 1786 unternahm er eine Reise zu seinen Freunden nach Bremen, 1793 auf des Ministers Bernstorff Einladung eine solche nach Kopenhagen, auf der er überall mit größter Auszeichnung empfangen wurde. Die letzten Jahre seines Lebens wurden ihm durch die politischen Ereignisse vielfach getrübt. Den harten Maßregeln seiner Kantonalregierung trat er ebenso mutig entgegen wie den Übergriffen der Demokratie und den Gewalttaten der französischen Revolution[265] (er richtete 178995 zahlreiche Briefe an die führenden politischen Persönlichkeiten in Paris) und kam auf diese Weise bei der helvetischen Regierung in den Verdacht eines Einverständnisses mit Rußland und Österreich; infolgedessen wurde er 16. Mai 1799 verhaftet und nach Basel deportiert. Am 10. Juni wurde er wieder in Freiheit gesetzt und kehrte nach Zürich zurück. Hier wurde er, als er bei der Eroberung der Stadt durch Masséna 26. Sept. d. J. den verwundeten Soldaten auf der Straße Hilfe leistete, von einer feindlichen Kugel getroffen, infolgedessen er nach langen und schweren Leiden starb. In Lavaters Wesen waren die merkwürdigsten Gegensätze vereinigt. Er besaß eine schrankenlose Phantasie und zugleich tiefes Gemüt, war genial und voll poetischer Stimmungen, aber ohne rechte Gestaltungskraft und ohne künstlerische Mäßigung; ideenreich und von scharfer Beobachtungsgabe, aber ohne Ruhe und Klarheit; von Natur fromm und gläubig, doch nicht gewissenhaft in der Wahl der Mittel, wenn es galt, seine Zwecke zu erreichen; ein Schwärmer und bekehrungssüchtig, aber tolerant und für alles Neue und Gute empfänglich, tätig und aufopfernd für das Wohl seiner Nebenmenschen. Sein Stil ist wie er selbst: leidenschaftlich und abenteuerlich, aber kraftvoll und im einzelnen oft äußerst glücklich und begeisternd. Sein Hauptstreben war, wie besonders aus seinen »Christlichen Liedern« (erstes Hundert, Zürich 1776; zweites Hundert, das. 1780) hervorgeht, dahin gerichtet, den Ideen des Rationalismus und der Aufklärung entgegenzuwirken. In diesem Bestreben berührte er sich mit Hamann und eine Zeitlang auch mit Herder. Dieselbe Richtung verfolgt er in seinen übrigen poetischen Werken, so in dem Drama »Abraham und Isaak« (1776), den Epen »Jesus Messias, oder die Zukunft des Herrn« (1780), »Joseph von Arimathia« (1794) etc., die freilich in bezug auf Kunstwert wenig bedeuten. In seinen asketischen Schriften zeigt sich überall die für die Sturm- und Drangperiode so charakteristische Neigung zu liebevoller Betrachtung der Vorgänge des eignen Seelenlebens; die wichtigsten darunter sind die »Aussichten in die Ewigkeit« (Zürich 176878, 4 Bde.), Träume und Visionen über den Zustand nach dem Tode; dann »Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst« (Leipz. 177273, 2 Tle., deren erster anonym erschien); »Pontius Pilatus, oder der Mensch in allen Gestalten, oder Höhe und Tiefe der Menschheit, oder die Bibel im kleinen und der Mensch im großen, oder ein Universal-Ecce-Homo, oder Alles in Einem« (Zürich 178285, 4 Bde.); ferner »Handbibliothek für Freunde« (o. O. 179094, 24 Bde.). Seine »Predigten über das Buch Jonas« und »Über die Liebe«, die »Handbibel« u.a. gehören zu den vortrefflichsten Erbauungsschriften. Am berühmtesten ward L. durch seine Ideen über Physiognomik, die er gleichsam zu einer Wissenschaft vom innern Menschen zu erheben suchte. Sein hierauf bezügliches Werk »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« (Leipz. 177578, vier »Versuche«) übte eine unglaubliche Wirkung auf seine Zeitgenossen aus und land auf der einen Seite ebenso begeisterte und beifällige Aufnahme, z. B. bei Goethe, der wichtige Beiträge zu dem Werke lieferte (vgl. von der Hellen, Goethes Anteil an Lavaters physiognomischen Fragmenten, Frankf. 1888), Herder, Stolberg, Jakobi, Merck etc. (auch in England und Frankreich hatte es zahlreiche Bewunderer), wie es von andern, z. B. von Lichtenberg, Musäus, Nicolai, auf das heftigste angegriffen wurde. Goethe, der von 1774 an eine Zeitlang mit L. in innigster Freundschaft lebte, fühlte sich später mehr und mehr von seinem Treiben abgestoßen. Seine Erlebnisse während der Revolutionskriege gaben L. Anlaß zu den Schriften: »Wort eines freien Schweizers an die große Nation« (Zürich 1798); »Freimütige Briefe über das Deportationswesen und seine eigne Deportation nach Basel« (Winterth. 180001, 2 Bde.). L. selbst gab seine »Vermischten Schriften« (Winterth. 177481, 2 Bde.) sowie seine »Sämtlichen kleinern prosaischen Schriften« (das. 178485, 3 Bde.), Geßner »Lavaters nachgelassene Schriften« (Zürich 180102, 5 Bde.) und Orelli »Lavaters ausgewählte Schriften« (das. 184144,8 Bdchn.) heraus. Lavaters Briefwechsel mit der Kaiserin von Rußland, der Mutter Alexanders I., erschien Petersburg 1858, 2 Bde.; den »Briefwechsel zwischen Hamann und L.« gab H. Funck (in der »Altpreußischen Monatsschrift«, Bd. 31, 1894) heraus. Vgl. Geßner, Lavaters Lebensbeschreibung (Zürich 1802, 3 Bde.); Hegner, Beiträge zur nähern Kenntnis und wahren Darstellung Lavaters (Leipz. 1836); Bodemann, J. K. L. nach seinem Leben, Lehren und Wirken dargestellt (2. Aufl., Gotha 1877); Muncker, Joh. Kasp. L. (Stuttg. 1883); Hosäus, J K. L. in seinen Beziehungen zu Herzog Franz und Herzogin Luise von Anhalt-Dessau (Dessau 1888); H. Funck, L. und der Markgraf Karl Friedrich von Baden (Freib. i. Br. 1890); Waser, J. K. L., nach Ulrich Hegners handschriftlichen Aufzeichnungen und »Beiträgen zur nähern Kenntnis Lavaters« (Zürich 1894); E. Haug, Aus dem Lavaterschen Kreise (Schaffh. 189497,2 Hefte); G. A. Müller, Aus Lavaters Brieftasche (Münch. 1897); Bobé, Johan Caspar Lavaters rejse til Danmark i sommeren 1793 (Kopenh. 1898); G. Finsler, Lavaters Beziehungen zu Paris in den Revolutionsjahren 17891795 (im »Neujahrsblatt zum Besten des Waisenhauses in Zürich«. Stück 61, Zürich 1898); Funck, Goethe und L. (Weim. 1901, wertvoll); »J. K. L. 17411801. Denkschrift zur 100. Wiederkehr seines Todestages« (Zürich 1902); Petersen, J. K. Lavaters liv (Kopenh. 1903).