Gehen

[162] Gehen ist ein Mittel der Fortbewegung für diejenigen organischen Geschöpfe, welche willkürliche Bewegung und Füße haben. Der Mensch und die Thiere sind an die Erde nur durch die Schwere gebunden; diese ist der Grund, aus welchem sie sich nicht nach Willkür von der Oberfläche der Erde trennen können, auf der sie ruhen, so lange ihr Körper hinreichend unterstützt ist, und fallen, d.h. sich unwillkürlich bewegen, sobald eine hinreichende Unterstützung des Körpers nicht stattfindet. Beim Stehen dienen zur[162] Unterstützung die Füße, und der Körper ist in Ruhe, im Gleichgewicht; beim Gehen wird aber diese Unterstützung zum Theil aufgehoben, indem der eine Fuß emporgezogen und zugleich der Körper aus der Gleichgewichtsstellung (durch Vorwärtsneigen) gebracht wird. Der Körper beginnt sogleich zu fallen, aber der wiederaufgesetzte Fuß hält ihn im Fall auf, es tritt wieder Gleichgewicht ein, welches abwechselnd wieder aufgehoben und wiederhergestellt wird, so lange die Bewegung des Gehens währt. Beim Gehen wird folglich eine willkürliche Bewegung erreicht durch Benutzung der aus der Schwere des Körpers bei mangelnder hinreichender Unterstützung sich ergebenden unwillkürlichen Bewegung. Das Laufen ist nur ein schnelles Gehen, bei welchem sich der Körper so stark überlegt, daß das wechselnde Heben und Aufsetzen der Füße aufs schnellste geschehen muß, wenn der Körper nicht fallen soll. Um die Bewegung aufzuhalten, muß das Gleichgewicht des Körpers hergestellt werden, d.h. der Körper muß wieder zurückgebogen werden, sodaß ihm die stillstehenden Füße hinreichende Unterstützung zu geben vermögen. Nach längerm Laufen hat der Körper eine unwillkürliche Geschwindigkeit erlangt, welche so groß sein kann, daß die Kraft der Menschen nicht hinreicht, bei der Annahme der Gleichgewichtsstellung sie zu besiegen, daher kommt es, daß man in einem schnellen Laufe sich nicht. willkürlich aufzuhalten und augenblicklich zum Stehen zu bringen vermag. Eine ganz andere Art der Bewegung als das Gehen ist das Hüpfen und Springen. Bei diesem nämlich wird die Schwere auf Augenblicke durch die Muskelkraft in einem Stoße gegen den Boden überwunden, der Körper trennt sich ganz von dem Boden; da aber die Schwere ohne Aufhören fortwirkt, die Stoßkraft, welche den Körper emportreibt, aber nur augenblicklich wirkt, so wird die durch die letzte erlangte Geschwindigkeit in kurzer Zeit von der ihr entgegenwirkenden Kraft der Schwere aufgehoben und der Körper fällt unwillkürlich wieder herab. Willkürliche und unwillkürliche Bewegungen werden beim Springen in Wechselwirkung gesetzt. Das Kriechen endlich unterscheidet sich vom Gehen dadurch, daß bei ihm die im Fallen auftretende unwillkürliche Bewegung gar nicht in Anwendung kommt, sondern der Körper fortwährend in einer Gleichgewichtsstellung bleibt und nur die Glieder benutzt werden, um durch Anstützen an Gegenstände des Bodens den Körper fortzuschieben. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, welches stets auf zwei Füßen aufrecht geht; die Arme desselben, welche den Vorderfüßen der Thiere entsprechen, berühren dabei niemals den Boden und dienen beim Gehen nur, um das Gleichgewicht des Körpers zu erhalten. Dies äußert sich in dem sogenannten Schlenkern. Das Stehen und Gehen des Menschen ist viel schwieriger, als das der mehrfüßigen Thiere, weil es schwerer ist, einen Körper auf zwei Stützen und auf einer Stütze im Gleichgewicht zu erhalten, als auf mehren. Beim Stehen und Gehen des Menschen findet ein fortwährendes Balanciren statt, der Körper ist niemals in so unwillkürlicher Ruhe, wie dieses schon beim Stehen auf vier Füßen, noch mehr aber beim Liegen stattfindet. Der Mensch ist daher auch das einzige Geschöpf, welches das Stehen und Gehen künstlich und mühselig lernen muß. Wird der Mensch alt, so beugt sich sein Körper nach vorn über, dabei wird er steifer und verliert an Gewandtheit und Behendigkeit; die Folge ist, daß das Stehen und Gehen noch schwieriger wird und der Mensch endlich, um nicht auf die Arme sich stützen zu müssen und noch einen möglichst aufrechten Gang zu behalten, zu Krücken greifen muß. Bei Anwendung einer Krücke hat der Körper drei, bei Anwendung zweier aber vier Unterstützungspunkte, durch welche die Herstellung der Gleichgewichtsstellung erleichtert wird.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 162-163.
Lizenz:
Faksimiles:
162 | 163
Kategorien: