[262] Grazien oder Charitinnen, die Huldgöttinnen, waren bei den alten Griechen und Römern die Göttinnen der Anmuth und des Liebreizes.
Anfangs kannte man nur zwei, später drei Grazien: Aglaja (d.h. Glanz), Thalia (d.h. Blüte) und Euphrosyne (d.h. Heiterkeit). Von ihnen leitete man alle Gaben edler Freude ab und nannte sie Töchter des Jupiter und Dienerinnen der Juno und Venus. Man baute ihnen Altäre und Tempel, weihete ihnen beim Mahle den ersten Becher und feierte ihnen zu Ehren die Feste der Charisien. Anfangs bildete man sie bekleidet, später auch unbekleidet; sie reichen sich die Hände und stehen, sich umschlingend, als Zeichen der Eintracht und Freude. – Grazie bezeichnet die vereinigten Reize der Unschuld und Anmuth, welche den Anschauenden zugleich zur Liebe erregen und ihm Verehrung und Achtung einflößen. Die Grazie ist es, welche der Schönheit erst einen hohen, einen sittlichen Werth gibt und dieselbe drückt sich nicht nur in den Zügen des Antlitzes, sondern ebenso sehr in jeder Bewegung und Stellung des Körpers aus. Wie im Faltenwurf eines zarten Gewandes die Formen des Körpers sich ausdrücken, so schimmert das göttliche Ebenmaß einer schönen Seele durch die leibliche Hülle, wenn diese die Grazie schmückt. Sie ist vergeistigte Natürlichkeit; wer sie besitzt, weiß es nicht; Niemand kann sie lernen oder nachahmen. Nur seelenvolle Wesen, nur der Mensch kann Grazie haben, und namentlich ist sie die schönste Zierde edler Frauen, deren. eigenthümliche Vorzüge Unschuld und Anmuth und zarte Körperformen sind.