Michel

[134] Michel (deutscher) ist der personificirende Spitzname jener im Allgemeinen als Philisterei bezeichneten, jetzt etwas in Abnahme gekommenen Richtung des deutschen Volkscharakters, in welchem der deutsche Michel das Mögliche leistet, ohne sich jedoch für gewöhnlich im geringsten dabei anzustrengen. Er ist aus kerngesundem Zeug gemacht, von Grund aus gut und treuherzig, und was List heißt, weiß er nicht; allein er ist auch. schwerfällig und unbeholfen, das Herkommen ist sein Abgott und weiter zu sehen, als seine Nase reicht, darf ihm nicht zugemuthet werden. Für rasche Geschäfte ist er durchaus nicht geschaffen, auch darf man ihn nicht als Rathgeber gebrauchen wollen, aber für den schweren Zug wetteifert er an Talenten mit dem besten Karrengaul. Es kommt ihm nicht darauf an, Fünfe gerade und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, wenn es sich nur mit der leidigen Gewohnheit verträgt, und wird ihm tüchtig um den Bart gegangen, so läßt er sich wohl aus purer Verlegenheit darüber die Haut über die Ohren ziehen. Einmal in den Harnisch gebracht, versteht er aber auch den Degen wacker zu gebrauchen, so leicht es ihm sonst in friedlicher Gesellschaft passirt, darüber zu straucheln. Die gehässige Bedeutung des Ausdrucks schreibt sich eigentlich erst aus dem 17. und dem Anfange des 18. Jahrh. her, wo franz. Übermuth und deutsch-franz. Selbstverblendung ihn zum Schmähwort der zu politischer Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Deutschen machten, während er von Schriftstellern des 16. Jahrh. meist als argloser Scherz angewendet wird. Diese frühe Anwendung widerlegt aber auch zugleich Diejenigen, welche die Entstehung desselben von dem dän. Generallieutenant Joh. Michael Obertraut herleiten, der sich in den Jahren 1620–22 den Spaniern besonders furchtbar machte, bei ihnen, sowie damals überhaupt, unter dem Namen des deutschen Michel bekannt war und 1625 in einem Treffen bei Hanover blieb. – Würdiger als der vorige, erscheint sein in jenem alten Liede »Gestern Abend war Vetter Michel da u.s.w.« gefeierter Verwandter, der Vetter Michel, ein echt deutscher Charakter, der im beschränktern häuslichen Kreise seine Hauptrolle spielt und nicht die Abnahme seiner Vertreter zu fürchten hat, weil er, wenn auch so ehrbar wie möglich, mit der Zeit fortgeht. Er ist das Muster eines wohlthätigen, anspruchslosen, gern erfreuenden, von Herzen zugethanen Hausfreundes, der nie stört, weil er sich blos Abends nach vollbrachten Tagesmühen einstellt und mit dem Hausvater, Mutter und Kinder sich nie langweilen, weil ihnen sein treuherziger Blick, sein gemüthliches Benehmen sogleich den Mund öffnet und für sein geduldiges Ohr nichts zu ausführlich erzählt, nichts zu oft wiederholt werden kann. Er weiß aber auch selbst Mancherlei zu sagen, bringt gern sein Späßchen und seine hausbackene Weisheit an, schenkt auch den Lieblingsneigungen seiner Freunde eine gebührende Aufmerksamkeit, versieht keinen Geburtstag und ist allezeit zum Gevatterstehen bereit. So ist sein Umgang immer still erfreulicher, aber durchaus nicht aufregender Art, und wenn er zur gesetzten Stunde das Feld räumt, bemerkt die ganze Familie mit Erstaunen, daß es die höchste Zeit ist, sich niederzulegen, wenn sie nicht vorher schon einschlafen will. Von den Musikern wird ihm sein geduldiges [134] Anhören von Wiederholungen aber zum Vorwurf gemacht, und man nennt davon die am unrechten Orte und geistlos angewendete Wiederholung ein und desselben melodischen Gedankens auf verschiedenen Stufen der Tonleiter spottweise Schusterfleck und Vettermichelei.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 134-135.
Lizenz:
Faksimiles:
134 | 135
Kategorien: