[335] Gebet ist der Ausdruck frommer Gefühle, welche durch die Richtung des Gemüthes auf die Gottheit hin in der Seele erzeugt worden sind. Hat der Herr aus dem Füllhorn seiner Gnade reichen Segen geschüttet, da regt sich ein beseligendes Gefühl in der Brust des Gesegneten. Was er in der Brust tief empfunden, es spricht sich aus in dem lebendigen Worte. Er betet, sein Gebet ist kindlicher Dank. In Räthsel und Nacht gehüllt liegt vielleicht des Sterblichen Leben Damit aber dieses Dunkel seinen Muth nicht breche, damit nicht bange Besorgniß in das Herz ihm ziehe, erhebt er sein Gemüth zu Gott, und fleht um Beistand und um väterlichen Schutz. Er betet, sein Gebet ist kindliche Bitte. Des Weltalls unermeßlicher Bau, das Prachtgewand des Himmels und der Erde erregen Gefühle des Staunens und der Bewunderung in ihm Er fühlt sich gedrungen, seinem Schöpfer zu opfern im Geiste und in der Wahrheit. Er betet, sein Gebet ist Lobgesang. Es hat die Schuld ihn gebeugt, die Sterne des Friedens an dem Himmel in der Brust sind erloschen oder doch getrübt: da blickt er zu dem Himmel des Ewigen, und auf zu den Sternen in der Hohe, wo Friede noch leuchtet und Licht und Klarheit noch wohnen. Er betet, sein Gebet ist Reue und Buße. Nicht in Worten also braucht das Gebet zu bestehen, auch das Gefühl, auch die Thräne, auch die Begeisterung[335] ist Gebet. Aller Gebete schönstes aber bleibt die reine That. So lange die Menschheit in Hinsicht der religiösen Bildung noch auf der Stufe der Kindheit stand, schrieb man dem Gebete magische Kraft zu. Man verrichtete es nach gewissen, festbestimmten Formeln und mit abgemessenen Ceremonien. Diese Meinung war unstreitig dadurch veranlaßt worden, daß die Menschen aller Zeiten in dem Gebet ein wirksames Mittel der Geisteserhebung, des Trostes und der Befestigung guter Gesinnungen fanden. Und dieß, nur dieß allein ist die Bestimmung des Gebetes.
t