Lenormand, Demoiselle

[328] Lenormand, Demoiselle, berühmte Wahrsagerin, hat sich durch eine seltene Gewandtheit und Schlauheit des Geistes in Ausübung ihrer lächerlichen Kunst in die erste Reihe unserer modernen Zauberinnen aufgeschwungen. Ihr Haus in der rue de Tournon war lange Zeit der Sammelplatz aller Damen des Hofes. Hätte[328] sie sich unter der Kaiserregierung damit begnügt, ihre Karten, ihren Kassesatz und das Eiweiß zu befragen, so würde die Polizei sie wahrscheinlich ihre unschuldigen Beschäftigungen haben ungestört treiben lassen; aber sie wollte den Kreis ihrer Prophezeihungen erweitern, und da die Herrschaft der Propheten nicht mehr oder noch nicht Mode geworden ist, mußte sie ihr kühnes Ausschweifen in das Gebiet der Politik, wenn auch nur durch eine kurze Hast, büßen. Dieses erzählt sie in einem dicken Bande, der den Titel führt: Souvenirs prophétiques d'une Sybille, sur les causes de son arrestation le 11. décembre 1809. Die Veröffentlichung dieses Werkes geschah nach der ersten Restauration 1814. Hoffmann, ein geistreicher Journalist, hatte die Grausamkeit, Demoiselle Lenormand, in der Kritik über obiges Werk »eine langweilige Hexe« zu nennen, worüber jene so außer sich kam, daß sie ihm in einem langen Briefe, den sie in öffentliche Blätter einrücken ließ, die heftigsten Vorwürfe machte. Dieß war jedoch nicht der einzige Federkrieg, den sie mit den Redakteurs von Zeitschriften zu kämpfen hatte. Die Aachener Zeitung hat einen ziemlich lustigen Streit, Religionssachen betreffend, bekannt gemacht, der jedoch aufhörte, als die Prophetin wieder nach Frankreich zurückkehrte. Außer ihren Erinnerungen sind 1812 les Oracles sybillins im Druck erschienen. Zwei Jahre später gab sie eine Schrift, betitelt: Anniversaire de la mort de l'Impératrice Josephine und 1815 la Sybille au tombeau de Louis XVl. heraus, und endlich eine Mittheilung über ihren Aufenthalt in Aachen.

E. v. E.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 328-329.
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