[415] Neujahr. Es liegt in der Natur des Menschen, jedem neuen Zeitabschnitte eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Gleich dem Wanderer, der auf der Höhe eines Berges angelangt, einen Augenblick rastet, um einen Blick rückwärts nach dem zurückgelegten[415] Pfade zu werfen, und mit einem andern, das noch vor ihm liegende Ziel zu messen verweilt unwillkürlich der Pilger auf dem Lebenswege, wenn die letzte Stunde des Jahres in das unermessene Meer der Vergangenheit rollt, um nie wiederzukehren, und versucht es, die nie rastende Zeit zu fesseln. Stunden und Tage sah er gleichgültig vorübereilen, oft wünschte er ihren Lauf zu beflügeln, aber jetzt, wo das letzte Abendroth hinter die Berge sinkt und die letzte Jahresnacht ihren dunkeln Mantel über Erde und Himmel breitet, jetzt, ehe sich die Pforte der Vergangenheit für immer schließt, ehe er hinüber schreitet in das neue Morgenroth, steht er still und seine Blicke folgen der Scheidenden. Sind es Freuden oder Schmerzen, die so gewaltig dein Inneres bewegen? Sind es Erinnerungen oder Hoffnungen, die dich auf dem ernsten Scheidewege zwischen Vergangenheit und Zukunft wach erhalten? Wer mag es wissen, wer kennt sich selbst genug, um Rechenschaft zu geben, wenn so verschiedenartige Eindrücke, gleich feindlichen Elementen, die Saiten des Herzens berühren? Doch wäre es auch die Thräne, die wir einem verlornen Lieben nachweinen, wäre es die drückende Last eines sorgen- und schmerzenvollen Lebens, die am Schlusse des Jahres um desto schwerer wiegt, weilt auch der Blick auf eingesunkenen Gräbern: von Osten her schreitet das Neujahr durch die goldene Pforte der Morgenröthe, frische, kühlende Lüfte legen sich auf die Brandwunden des Herzens, der lichte junge Tag zertrümmert die Nachtdecke und an seiner Hand führt er unsern treuesten, nie alternden Freund, die Hoffnung! Und so reichen sich denn die beiden Schwestern Zukunft und Vergangenheit auf der Grenze, die sie scheidet, den Liebeskuß, und Millionen Herzen fühlen den Pulsschlag, den er entzündet, und feiern mit ihnen das Fest des jungen Jahres. Wir finden die Feier des neuen Jahres bereits bei den Juden, welche diesen Tag für Adams Erschaffungstag hielten. Die Römer opferten an demselben dem Janus, man zündete an vielen Orten Räucherwerk an, der neu erwählte Magistrat[416] zog in's Capitolium und opferte für den Jupiter, alle an diesem Tage vorgenommenen Geschäfte hatten sich eines guten Erfolges zu erfreuen; man schenkte sich vergoldete Datteln, Feigen, Pflaumen, selbst die Kaiser nahmen Neujahrsgeschenke an, welche später zur Abgabe wurden. Bei den Christen ist der Neujahrstag das Fest der Beschneidung Christi und gilt als hoher Festtag. Früher wurde er an vielen Orten am 25. März gefeiert und bis in's 14. Jahrhundert in Deutschland am 25. December. Die sonst so üblichen Neujahrsgeschenke haben sich in Deutschland meist in Gratulationen umgewandelt. Die Neujahrswünsche sind namentlich in Wien und Paris ein Gegenstand der Eleganz und Mode; auch verknüpft man damit in der Regel kleine Geschenke, die in Frankreich Etrennes heißen. Der Volksaberglaube hat überdieß an vielen Orten während der Neujahrsnacht Gebräuche aufrecht erhalten, deren Entstehung in die früheste Vorzeit zurückfällt. In dem mittäglichen Schottland z. B. beeilen sich die jungen Mädchen, sobald es am 31. Decbr. 12 Uhr geschlagen hat, den nächsten Brunnen zu erreichen, um dort die obersten Lagen des Wassers abzuschöpfen, was man die Sahne vom Brunnen sammeln nennt. Die Glückliche, der dieß zuerst gelingt, ist gewiß, den schönsten und liebenswürdigsten Jüngling des Kirchspiels zum Gatten zu erhalten. Während die Mädchen zum Brunnen laufen, singen sie:
Die Blume vom Brunnen, sie kehrt in mein Haus,
Mich wählet der stattliche Junge wohl aus.