[216] Seume, Johann Gottlieb, der originelle Spaziergänger und Fußreisende, der Mann mit dem düstern Antlitz und dem melancholischen Auge, aber dem starken, mannhaften Herzen unter dem schlichten Rock, ein deutscher Dichter, fast berühmter durch die Bizarrerie seines Schicksals und Charakters, als durch seine Schriften, obwohl dieselben, namentlich seine »Gedichte« (welche 1822 eine 5te Auflage erlebten), sein origineller »Spaziergang nach Syracus,« seine »Obolen« und das Ergebniß seiner Fußreise nach Rußland und Schweden: »Mein Sommer im J. 1805,« sich sämmtlich durch eine gewisse Kraft der Empfindung und Darstellung vortheilhaft auszeichnen. Geb. am 29. Jan. 1763 in dem Dorfe Poserne bei Weißenfels, wurde er nach dem frühen Tode seines Vaters, eines schlichten Landmanns, von dem Grafen von Hohenthal-Knauthayn edelmüthig in der Begründung seiner wissenschaftlichen Laufbahn unterstützt: jedoch überdrüssig der theologischen Studien, verließ er plötzlich die Universität Leipzig, um nach Paris zu wandern, fiel aber unterwegs in die Hände hessischer Werber, welche ihn nach Kanada verhandelten, wo er in englischem Solde gegen Nordamerika kämpfen mußte. Hier war es in den Urwäldern der neuen Welt, wo er in vollen Zügen den Wermuthbecher trank, der ihm das süßeste Erbtheil des Herzens, den göttlichen Traum der Menschenliebe und Hoffnung, zuerst bitter vergiftete; hier war es aber auch, wo er den Becher heißer, deutscher Freundschaft mit dem Dichter Münchhausen leerte, den er so würdig verherrlicht hat in dem[216] schönsten seiner Geschichte. Nach Beendigung des amerikanischen Krieges kehrte er wieder nach Deutschland zurück, entfloh zweimal seinem Regimente, um jedesmal wieder eingeholt zu werden, und erhielt erst nach vieler Mühe und gegen die Bürgschaft eines Bürgers Urlaub nach Leipzig, wo er sich mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte. 1793 ging er nach Warschau als Secretär des russ. Generals Igelström, kehrte jedoch nach mancherlei Fährlichkeiten wieder nach Leipzig in den gewohnten Wirkungskreis zurück, vollendete später als der rüstigste aller Fußgänger seine beiden Riesenspaziergänge nach Syracus und nach Rußland und Schweden, und starb in Teplitz, wohin er sich zur Herstellung seiner Gesundheit begeben hatte, am 13. Juni 1810. Hier ruht nun auch der Wanderlustige, mit dem kleinsten Raume zufrieden, unter einem schlichten Denksteine von Eichen beschattet, und ein säuselnder Westwind wirft zuweilen aus ihren Wipfeln als Sühnopfer ewige Blätter auf sein Grab: aus Eichenblättern webt ja das Vaterland seine Bürgerkronen.
S....r.