Tanaquil

[11] Tanaquil. Sichtbar zitternd unter eines Gottes Majestät, die Marmorstirn und das thränenlose Auge in den schwarzen Schleier, den undurchdringlichen, gehüllt, wandelte die Seherin Kassandra (s. d.) durch Troja's Straßen, bis sie endlich, dem Weh der Zukunft erliegend, zusammenbrach unter dem Riesengewicht des ewig unverstandenen Schmerzes, nie verstanden worden zu sein. Nicht also T., die glücklichere Gemahlin des röm. Königs Tarquinius Priscus. Denn als sie mit ihrem damals noch unbekannten Gemahl aus ihrer Vaterstadt Tarquinia nach Rom zog und diesem auf dem Wege ein Adler den Hut nahm und wiederaufsetzte, verkündete sie ihm, des Gottes voll, aus diesem Ereigniß die königliche Zukunft. Ihre Seherkraft entdeckte auch in ihrem Sclaven Servius Tullius die höhere Bestimmung; diese schloß sie aus einer Flamme, die diesem einst auf dem Haupte brannte; und in der That wurde derselbe der Nachfolger ihres Gemahls in der königlichen Würde. Eine freundliche Parze, welche in ihren Gedanken den Faden der künftigen Ereignisse spann, war sie zugleich in Wirklichkeit eine vortreffliche Spinnerin; deßhalb wurde auch lange Zeit ihr Spinngeräth in dem Tempel des Sancus zu Rom als ein Heiligthum aufbewahrt. Pallas Athene vereinigte mit dem Geiste der Weisheit sinnig die Kunst des Webens: – die weise T. webte das erste, einfache Unterkleid, die sogenannte Tunica recta; und die von ihr gefertigte wellenförmige Toga des Servius wurde in dem Tempel der Fortuna als ein Meisterstück weiblicher Kunstfertigkeit niedergelegt. Die Weberin Arachne ließ sich mit Athene in einen Wettstreit ihrer Kunst ein und wurde von der beleidigten Göttin in eine Spinne verwandelt: – die weise T.[11] achtete die Götter hoch, die ihr die Seherkraft geschenkt, und starb im hohen, glücklichen Alter als würdige königliche Matrone für immer geheiligt in der Mythengeschichte der ewigen Stadt.

B.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 10. [o.O.] 1838, S. 11-12.
Lizenz:
Faksimiles:
11 | 12
Kategorien: