Abstraction

[5] Abstraction (Abziehung, Absonderung) ist die Heraushebung eines Erkenntnisinhalts durch die willkürliche, active Aufmerksamkeit (Apperception), das willkürliche, absichtliche, zweckbewußte Festhalten bestimmter Vorstellungsmerkmale unter gleichzeitiger Vernachlässigung, Zurückdrängung, Hemmung; anderer Merkmale. Der Gegensatz zur Abstraction im engeren Sinne, d.h. zur Erweiterung des Begriffsinhalts, ist die logische Determination (s. d.).

Abstrahieren bedeutet das Absehen vom Individuellen, Zufälligen zugunsten des Allgemeinen, Notwendigen, Wesentlichen, Gattungsmäßigen, zunächst bei ARISTOTELES (Anal. post. 74 a 37; Met. 1036 b 3, 1077 b 9; Phys. 187 b 33, 206 a 15). Die Scholastiker betonen den Wert der Abstraction für die Erkenntnis der Universalien (s. d.). »Per abstrahentem intellectum genera concipiuntur et species« (JOH. v. SALISBURY bei PRANTL, G. d. L. II, 248). Es wird viel vom »abstrahere formam a materia individuali« (THOMAS, Sum. th. I, 85,1) gesprochen. Die »species intelligibiles« (s. d.) werden von den sinnlichen Vorstellungen[5] (phantasmata) abstrahiert durch den »intellectus agens«. So können wir »in nostra consideratione naturas specierum sine individualibus condicionibus« gewinnen (l.c. I, 85, 1). »Formae fiunt intellectae in actu per abstractionem« (C. gent. I, 44, 98; II, 82). Die Abstraction kann auf zweierlei Weise erfolgen: 1) »per modum. conmpositionis et divisionis, sicut cum intelligimus aliquid non esse in alio, vel esse separatum. ab eo«, 2) »per modum simplicitatis, sicut cum. intelligimus unum, nihil considerando de alio« (ib.). Ferner gibt es eine Abstraction, »secundum quod universale abstrahitur a particulari, ut animal ab homine,« und eine »secundum. quod forma abstrahitur a materia, sicut forma circuli abstrahitur per intellectum ab omni materia sensibili«(Sum. th. I, 40, 3c). Nach DUNS SCOTUS gibt es eine zweifache Abstraction. »Una est a materia et suppositis, sicut homo abstrahitur ab illo homine et ab isto et a materia, ut ab homine albo et nigro... Alia est abstr. a suppositis, sed non a materia, sicut homo albus abstrahitur ab illo homine et ab isto« (bei PRANTL, G. d. L. III, 212). ZABARELLA bestimmt das Abstrahieren als »actio intellectus, quo separat a phantasmatibus seu visis universale et ipsum. denudat onmi materiali conditione« (de mente agent. 6). GOCLEN erklärt, es sei die Abstraction eine »consideratio alicuius absque eo, in quo est« (Lex. phil. p. 14); zwei Abstractionsstufen gibt es: »abstr. prima« (z.B. color) und »abstr. secunda« (coloreïtas) (l.c. p. 19). CAMPANELLA führt die Abstraction auf ein Nachlassen der Verstandestätigkeit zurück, sie hat also einen negativen Charakter. »Abstractio universalis non fit per virtutem aliquam. agentem, sed ex languore activitatis in singularitatibus vel ex; raritate agendi« (Univ. phil. I, 5, 1). Die Logik von PORT-ROYAL erklärt das abstracte, discursive Erkennen durch die Beschränktheit unseres Geistes. »Limitatio mentis nostrae causa est, ut nequeamus comprehendere res aliqualiter comopositas alio modo, quam eas particulatim considerando et quasi diversas illarum facies contemplando, quae nobis obverti possunt; hoc autem ipsum est quod generaliter scire per abstractionem dicitur« (I, 4).

LOCKE setzt das Abstractionsverfahren in die gesonderte Auffassung der Dinge, getrennt von allen andern Dingen und von den Nebenumständen der Dinge wie Zeit, Raum u. s. 11. (Ess. c. h. u. II, § 9). BERKELEY betont, abstrahieren heiße nur »einzelne Teile oder Eigenschaften gesondert von anderen betrachten«, und das sei nur möglich bei Eigenschaften, welche ebenso gesondert existieren können (Princ. X; so auch HUME). CONDILLAC erklärt abstraire als »séparer une idée d'une autre, à laquelle elle paraît naturellement unie« (Tr. d. sens. I, ch. 4, § 2). CHR. WOLF: »Si ea, quae in perceptione distinguuntur, tanquam a re percepta seiuncta intuemur, ea abstrahere dicimur« (Psych. emp. § 282).

Als Absehen von dem Besonderen und Beibehaltung, Fixierung des Allgemeinen durch Hemmung, Verdunkelung des Specifischen wird, in einigen Modificationen, die Abstraction bestimmt von G. F. MEIER (Met. S. 73 f.), von KANT (»Absonderung alles Übrigen, worin die gegebenen Vorstellungen sich unterscheiden«) (Log. § 6). »Wir müssen nicht sagen: Etwas abstrahieren (abstrahere aliquid), sondern von etwas abstrahieren (abstrahere ab aliquo). Abstracte Begriffe sollte man daher eigentlich abstrahierende (conceptus abstrahentes) nennen, d.h. solche, in denen mehrere Abstractionen vorkommen« (l.c. S. 146 f.). LAMBERT erklärt: »Da der Begriff der Art und Gattung nur die Merkmale in sich faßt, die die Sache mit anderen gemein hat, so läßt man in diesem Begriffe[6] alle eigenen Merkmale weg und stellt sich die gemeinsamen besonders vor. Die Verrichtung des Verstandes, wodurch dies geschieht, nennt man abstrahieren« (Org. I, § 17). DESTUTT DE TRACY: »Vous tirez de deux ou plusieurs idées individuelles tout ce qui les confond, en rejetant tout ce qui les distingue, et vous en faites une idée commune« (El. d'idéol. I, 6, p. 91). Nach HERBART beruht die Abstraction psychologisch auf der »Hemmung des Verschiedenen vieler Vorstellungen« und Verschmelzung des Gleichartigen derselben zu einer Gesamtvorstellung (Psych. a. Wiss. II, § 121; ähnlich FRIES, Syst. d. Log. S. 63). DROBISCH definiert die Abstraction als »die Denkoperation, welche von den verglichenen Objecten die ihnen eigentümlichen Merkmale absondert und dadurch ihren Gattungsbegriff bildet« (Neue Darst. d. Log.5, § 19, S. 21), VOLKMANN als den Process der »Loslösung des Vorstellungs- oder Formbewußtseins von allen Beziehungen auf ein anderes durch die wechselseitige Hemmung dieser Beziehungen untereinander« (Lehrb. d. Psych. II4, S. 247).

Den positiven Charakter der Abstraction betont HEGEL. »Das abstrahierende Denken... ist nicht als bloßes Auf-die-Seite-stellen des sinnlichen Stoffes zu betrachten, welcher dadurch in seiner Realität keinen Eintrag leidet, sondern es ist vielmehr das Aufheben und die Reduction desselben als bloße Erscheinung auf das Wesentliche, welches nur im Begriff sieh manifestiert« (Log. II, 20). Nach LOTZE erfolgt die Abstraction nicht durch bloße Weglassung, sondern durch »Ersatz der weggelassenen Merkmale durch ihr Allgemeines« (Log.2, S. 41). W. HAMILTON betrachtet die Abstraction als eine Function der Aufmerksamkeit. So auch J. ST. MILL, der aber keine gesonderte Existenz des Abstracten annimmt. »The formation... of a concept does not consist in separating the attributes which are said to compose it, from all other attributes of the same objects... But... we have the power of fixing our attention on them, to the neylect of the other attributes« (Examin. p. 393 ff.). Nach SULLY ist Abstraction eine »geistige Abweisung dessen oder ein geistiges Abwenden von dem, was für den Augenblick nicht von Wichtigkeit ist« (Handbuch d. Psych. S. 235). Wahre Abstraction ist erst durch die Sprache ermöglicht (l.c. S. 253). A. BAIN bemerkt: »The identifying a number of different objects on some one common feature, and the seizing and marking that feature as a distinct subject of thought« bildet das Wesen der Abstraction (Sens. and Int.3, p. 511). Abstraction als Bewußtsein des Abstracten ist nach B. ERDMANN »Aufmerksamkeit auf das Gleiche, das in dem Verschiedenen, welches in dem Kreise des bloßen Bewußtseins verbleibt, vorgestellt wird« (Log. I, 48). Sprachliche Abstraction ist die »Bildung und Verdichtung von Vorstellungen gleicher Merkmale durch die Reproduction von Erinnerungen und ihre Zusammenordnung zu neuen Gegenständen auf Grund sprachlicher Überlieferung durch die Einbildung« (l.c. S. 51 f.). Nach SCHUPPE ist die Abstraction »Unterscheidung der nächsthöheren eigentlichen Gattung von dem Specifischen im einfachsten Element« (Log. S. 90 ff.), nach UPHUES ein »Vorgang der Aufmerksamkeit auf bestimmte Teile der die Wahrnehmungen und entsprechenden Vorstellungen vermittelnden Empfindungen, die natürlich notwendig mit dem Absehen von den übrigen Teilen verbunden ist, ohne daß es dazu eines besondern Vorgangs bedürfte« (Psych. d. Erk. I, 239). Es gibt eine natürliche und künstliche Abstraction (l.c. S. 240). WUNDT bestimmt die Abstraction (psychologisch) als active Apperception, Fixierung, Aussonderung bestimmter (»herrschender«) Vorstellungselemente (auch an einer einzigen Vorstellung) (Log. I2, S. 46 ff.). Die »isolierende« Abstraction besteht[7] in der Abtrennung eines bestimmten Teiles von einer complexen Erscheinung, die »generalisierende« in der absichtlichen Vernachlässigung von Merkmalen (Log. II, 11 f.). Nach KREIBIG besteht die Abstraction darin, daß »ein bestimmtes Merkmal in mehreren Einzelvorstellungen fixiert wird, wodurch von selbst die übrigen Merkmale im Bewußtsein zurücktreten« (Die Aufm. S. 42). Nach LIPPS ist Abstraction die »Heraushebung unselbständiger Bewußtseinselemente durch das bezeichnende Wort« (Gr. d. Log. S. 126). H. CORNELIUS lehrt (mit HUME): »Auf ein... Merkmal eines Inhaltes achten und von den übrigen abstrahieren heißt nichts anderes, als die Ähnlichkeit des Inhaltes mit einer Gruppe und nicht zugleich diejenige mit den übrigen Gruppen von Inhalten erkennen, mit welchen er außerdem noch Ähnlichkeit aufweist« (Einl. in d. Phil. S. 237 f.; Psychol. S. 50 ff.). Vgl. MEINONG, Zeitschr. f. Psychol. u. Phy(s. d.) Sinne Bd. 24. Vgl. Allgemein.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 5-8.
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