[58] Apperception (apperceptio von ad-percipere) heißt jetzt die Klarwerdung bezw. Klarmachung eines Vorstellungsinhalts durch aufmerksames Erleben desselben. Die Wirkung des Appercipierens besteht in der größeren Bestimmtheit, Bewußtheit des Vorstellungsinhalts und in der Einreihung desselben in den Zusammenhang des Ichbewußtseins. Die passive Apperception ist eine Triebhandlung, geht von einer gefühlsbetonten Vorstellung als Motiv der Aufmerksamkeitseinstellung aus; die active Apperception ist eine Willkür- oder eine Wahlhandlung, in ihr bekundet sich die Einheit, Totalität und Activität des Ich. Die active Apperception liegt allem Denken, aller productiven Phantasietätigkeit und allen äußeren Willenshandlungen zugrunde; sie selbst ist schon eine (innere) Willenshandlung, die den Verlauf der Vorstellung hemmt, dirigiert, ordnet.
Bevor noch der Begriff der Apperception gebildet ist, betont man verschiedenerseits die Function der Aufmerksamkeit (s. d.) für das Bemerken, bewußte Erfassen, Bevorzugen eines Inhaltes. So schon AUGUSTINUS (De trin. XI, 19, De mus. VI, 8, 21), DUNS SCOTUS (OP. Ox. II, 25, 22, 24 f. Opp. XI, 13, 16, 412 f.). DESCARTES spricht direct von dem Vermögen der Seele, »d'appercevoir ce qu'elle veut« (Pass. de l'âme I, 19).
Begründet wird die Lehre von der Apperception von LEIBNIZ. Unter Apperception versteht er zunächst die bewußte im Unterschied von der unbewußten (unterbewußten) Vorstellung (der »petite perception«), die durch Zuwachs oder Addition zu einer bewußten werden kann: »La perception devient apperceptible par une petite addition ou augmentation« (Nouv. Ess. II, ch. 9, § 4). Die Apperception ist eine »perceptio melior, cum attentione et memoria coniuncta«. Apperceptionen haben nur die höheren, geistigen Monaden (s. d.). Zugleich ist die Apperception Erfassung des inneren, seelischen Zustandes im Subjecte (»la conscience ou la connaissance réflexive de cet état intérieur, laquelle n'est point donné à toutes les âmes ni toujours à la même âme«, Gerh. VI, 600). Da aber die Reflexion auf das Ichbewußtsein zurückführt (»les actes réflexifs nous font penser à ce qui s'appelle moi,« Monad. 30), so bedeutet Apperception die Erhebung einer Vorstellung ins Selbstbewußtsein, ist sie das Bewußtsein eines Inhaltes zugleich mit dem Bewußtsein, daß dieser Inhalt in meinem Bewußtsein ist. Die Apperception unterscheidet sich von der »verworrenen« Vorstellung durch ihre Klarheit. Sofern wir appercipieren, sind wir activ (s. d.). CHR. WOLF bringt gleichfalls die Apperception zum Selbstbewußtsein in Beziehung. »Dum... attentionem nostram in hoc convertimus, quod rerum perceptarum nobis conscii sumus, nostri enim conscii sumus. Sed tum apperceptionem,[58] actionem quandam animae, percipimus et nos per eam tanquam subiectum percipiens ab obiectis, quae percipiuntur, distinguimus agnoscentes utique percipiens subiectum esse quid diversum a re percepta« (Psych. rat. § 13; Psych. emp. § 25). TETENS stellt das Appercipieren als active Bewußtseinstätigkeit als »neue hinzukommende Action der Seele« der Perception gegenüber (Phil. Vers. I, 290).
KANT gebraucht den Ausdruck »empirische Apperception« gleichbedeutend mit dem des »inneren Sinnes« (s. d.). Sie ist »das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehmung«. Von diesem »wandelbaren« Ichbewußtsein (Kr. d. r. V. S. 121) unterscheidet er die »transcendentale Apperception« (s. d.) als reine, constante, synthetische, active Ichheit. JACOB versteht unter Apperception die Auffassung und Zusammenfassung von Vorstellungsinhalten zu einem Ganzen (Gr. d. Erfahr.3, S. 201 ff.). M. DE BIRAN versteht ebenfalls unter »Apperception interne immédiate« das Bewußtsein des Ichs von sich selber (Oeuvr. III, 5). »J'appellerai apperception toute impression où le moi peut se reconnaître comme cause productrice en se distinguant de l'effet sensible que son action détermine« (Oeuvr. inéd. I, 9, III, 346).
Einen neuen Begriff der Apperception führt HERBART ein. Apperception ist nach ihm die Aufnahme und Bearbeitung von Vorstellungen durch eine Reihe anderer, neuer durch alte, manchmal auch alter dtlrch neue Vorstellungen. Die stärkeren Vorstellungen sind die appercipierenden, die schwächeren die appercipierten; diese verschmelzen mit jenen. Neue Vorstellungen werden appercipiert, an- oder zugeeignet, indem »ältere gleichartige Vorstellungen erwachen, mit jenen verschmelzen und sie in ihre Verbindungen einführen« (Psych. a. Wiss. II, § 126). »Anstatt daß die appercipierten Vorstellungen sich nach ihren eigenen Gesetzen zu heben und zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen durch die mächtigeren Massen unterbrochen, welche das ihnen Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte, und das ihnen Gleichartige, wenngleich es sinken sollte, anhalten und mit sieh verschmelzen« (Lehrb. z. Psych. S. 32 f.). Durch die Aufnahme neuer Vorstellungen seitens eines gefestigten Bestandes alter Vorstellungen, sog. »Vorstellungsmassen«, geschieht die Bereicherung unseres Seelenlebens, die Deutung und Erkennung des Unbekannten. VOLKMANN definiert ebenfalls die Apperception als »Verschmelzung einer neuen isolierten Vorstellungsmasse mit einer älteren, ihr an Umfang und innerer Ausgeglichenheit überlegenen« (Lehrb. d. Psych. II4, 190). STEINTHAL nennt die appercipierenden Vorstellungen apriorische, die appercipierten aposteriorische; er unterscheidet eine identificierende, subsumierende, harmonisierende, disharmonisierende Apperception. (Einl. in d. Psych.) Nach LAZARUS ist die Apperception die Reaction der »vom Inhalt bereits erfüllten, durch die früheren Processe seiner Erzeugung ausgebildeten Seele« (Leb. d. Seele II2, 42). Jede wirkliche Perception ist schon Apperception (ib.). Nach LIPPS wird ein Inhalt appercipiert, »wenn er solche in der Seele vorhandenen Associationen wachruft, die ihn mit einem vorher vorhandenen Inhalte in gesetzmäßige Beziehung setzen« (Gr. d. Seel. S. 407). Wir appercipieren, indem wir »Inhalte uns aneignen, d.h. sie zu unserem Selbstgefühl in Beziehung bringen oder in das System unseres Selbstbewußtseins einordnen« (l.c. S. 409). Es gibt eine logische, ästhetische, praktische Apperception (s. d.). STOUT definiert die Apperception als den Proceß, vermittelst dessen ein vorhandener geistiger Vorrat[59] um ein neues Element vermehrt wird (Anal. Psych. II). Ähnlich JODL (Lehrb. d. Psych. S. 443). W. JERUSALEM versteht unter Apperception »die Formung und Aneignung einer Vorstellung infolge der durch die Aufmerksamkeit actuell gewordenen Vorstellungsdispositionen« (Lehrb. d. Psych.3, S. 87). Die Apperception gibt dem Vorstellungsverlauf »die Richtung und einen gewissen Abschluß« (ib.). Die am leichtesten erregbaren appercipierenden Vorstellungsgruppen sind die »herrschende Apperceptionsmasse« (ib.). »Fundamentale« Apperception ist die »Apperceptionsweise..., durch welche alle Vorgänge der Umgebung als Willensäußerungen selbständiger Objecte gedeutet werden« (l.c. S. 90). Sie liegt der Urteilsfunction (s. d.) und den Kategorien (s. d.) zugrunde. MÜNSTERBERG: »Wir fassen ein Object auf, heißt, daß wir zu einem bestimmten Handlungstypus übergehen.« In den motorischen Centren bestehen moleculare Dispositionen, vermöge deren der Reiz eine complexere Wirkung auslösen kann, als seiner isolierten Einwirkung entsprechen würde (Princ. d. Psych. S. 551). Nach HUSSERL ist Apperception »der Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem descriptiven Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht« (Log. Unt. II, 363).
Als Willensvorgang wird die Apperception von WUNDT bestimmt, zugleich als bewußtseinssteigernder, hemmender, ordnender Act. Apperception nennt Wundt »den einzelnen Vorgang, durch den irgend ein psychischer Inhalt zu klarer Auffassung gebracht wird«, im Unterschiede von der bloßen Perception (Gr. d. Psych.5, S. 249). »Die Inhalte, denen die Aufmerksamkeit zugewandt ist, bezeichnen wir, nach Analogie des äußeren optischen Blickpunktes, als den Blickpunkt des Bewußtseins oder den inneren Blickpunkt, die Gesamtheit der in einem gegebenen Moment vorhandenen Inhalte dagegen als das Blickfeld des Bewußtseins oder das innere Blickfeld« (ib.). Nur ein sehr kleiner Teil unserer Vorstellungen wird jederzeit, mit verschiedener Klarheit, appercipiert. In zwei Formen tritt die Apperception auf. »Erstens: Der neue Inhalt drängt sieh plötzlich und ohne vorbereitende Gefühlswirkung der Aufmerksamkeit auf; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der unvorbereiteten oder der passiven Apperception.« Sie ist durch ein Gefühl des Erleidens charakterisiert, das aber rasch in ein Tätigkeitsgefühl übergeht (l.c. S. 259). »Zweitens: Der neue Inhalt wird durch Gefühlswirkungen... vorbereitet, und es ist infolgedessen schon vor seinem Eintritt die Aufmerksamkeit auf ihn gespannt; wir bezeichnen diesen Verlaufstypus als den der vorbereiteten oder der activen Apperception«. Ein Gefühl der Erwartung geht hier, verbunden mit Spannungsempfindungen, der Auffassung des Inhalts voran, das durch ein Gefühl der Erfüllung und dann durch ein Tätigkeitsgefühl abgelöst wird (l.c. S. 260). Alle Apperception ist ein Willensvorgang, bei dem »nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Wahrnehmung gewollt wird« (Völkerpsych. I 2, 241). Die passive Apperception ist, subjectiv, eine Triebhandlung, denn hier ist »der unvorbereitet sich aufdrängende psychische Inhalt offenbar das allein vorhandene Motiv der Apperception«. Die active Apperception ist eine Willkürhandlung, die aus einer Mehrheit von Motiven, oft nach einem »Kampf« derselben, hervorgeht (l.c. S. 261). Die Ausdrücke »activ« und »passiv« beziehen sich »nicht unmittelbar auf den Vorgang der Apperception selbst, der im wesentlichen überall der nämliche ist, sondern auf den gesamten Bewußtseinszustand« (l.c. S. 261). Apperception und Aufmerksamkeit (s. d.) sind die objective und die subjective Seite eines Vorgangs. Die Apperception ist schon eine Bedingung der Association (s. d.); die[60] active Apperception liegt aller geistigen Tätigkeit zugrunde. Die Functionen der Apperception sind das Beziehen-Vergleichen, Analyse-Synthese (l.c. S. 303 ff., Vorles.2, S. 267, 263, 274; Grdz. d. ph. Psych. II4, S. 266 ff., 278 f., 437; Phil. Stud. II, 33 f., X, 95; Syst. d. Phil.2, S. 576 f.; Ess. 6, S. 174; Log. I2, 30, II2, 265 f.). Die Apperception ist keine Tätigkeit, die außer dem Zusammenhange von Gefühlen und Empfindungen bei der Auffassung eines Inhalts existiert, kein »Seelenvermögen«. Physiologisch ist sie ein Hemmungsproceß, durch den das Klarwerden anderer Eindrücke als der appercipierten verhindert wird; nach WUNDT gibt es ein (vielleicht im Stirnhirn localisiertes) Apperceptionscentrum, von dem senso-motorische Wirkungen ausgehen. Aber »nur insoweit jeder Apperceptionsvorgang mit Veränderungen am Empfindungsinhalte verbunden ist, sind für ihn physiologische Parallelvorgänge anzunehmen« (Grdz. d. ph. Psych. II4, 274, 276, 283 f. Phil. Stud. II, 33 f., X, 95). Apperception und Association (s. d.) sind nicht voneinander unabhängige Vorgänge oder gar Äußerungen von »Seelenvermögen«, sondern »zusammengehörige Factoren des psychischen Geschehens« (Völkerpsych. I 2, 575). Unter Einheit der Apperception versteht WUNDT »die Tatsache, daß jeder in einem gegebenen Augenblick appercipierte Inhalt des Bewußtseins ein einheitlicher ist, so daß er als eine einzige mehr oder minder zusammengesetzte Vorstellung aufgefaßt wird« (l.c. I, 2, 466). Anhänger der WUNDTschen oder doch einer ähnlichen Apperceptionslehre sind O. KÜLPE (Gr. d. Psych. S. 441), E. MEUMANN, HÖFFDING, JAMES, VILLA, KARL LANGE, (Üb. Apperception 1899), HELLPACH (Grenzwis(s. d.) Psych. S. 6) u. a. Eine physiologische Deutung des Apperceptionsvorganges gibt OPPENHEIMER (Physiol. d. Gef. S. 103 ff., 115 f.), auch KROELL, der aber keine Spontaneität des Bewußtseins anerkennt, sondern eine »Reflextheorie« aufstellt (Die menschliche Seele S. 58 ff.), ferner OSTWALD (Vorles. üb. Naturphilos.2). Gegner sind VOLKMANN (Lehrb. d. Psych. II4, 193 ff.), JODL (Lehrb. d. Psych. S. 443), ZIEHEN (Leitf. d. ph. Psych.2, S. 148) und die Associationspsychologen überhaupt. Sie führen, wofern sie die Veränderung des Vorstellungsverlaufs durch die Aufmerksamkeit berücksichtigen, diese auf Association zurück, wie z.B. JODL Zweckvorstellungen als »Associationscentrum« die Reproduction leiten läßt (Lehrb. d. Psych. S. 492, 499, 505, 508, 511 f.). ZIEHEN erklärt die Erscheinungen, die man sonst der Apperception zuschreibt, durch die Deutlichkeit, den Gefühlston, die Energie der Association, die Constellation der Vorstellungen (Leitf. d. ph. Psych. S. 174 ff., 198, 200 f.). – ZIEGLER nimmt an, das Gefühl (Interesse) sei das Agens der Apperception, diese sei keine Willenstätigkeit (D. Gef.2, S. 47 ff., 307). E. VON HARTMANN bestimmt die Apperception als absolut unbewußte psychische Function ohne materielle Grundlage (Mod. Psych. S. 140). Vgl. Apperceptionspsychologie, Aufmerksamkeit.
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