[298] Erkenntnistheorie ist jener Teil der Philosophie, der zunächst die Tatsachen des Erkennens als solche beschreibt, analysiert, genetisch untersucht (Erkenntnispsychologie) und dann vor allem den Wert der Erkenntnis und ihrer Arten, Gültigkeitsweise, Umfang, Grenzen der Erkenntnis prüft (Erkenntniskritik). Die Erkenntnistheorie unterscheidet sich von der Psychologie durch ihren kritisch-normativen Charakter, bedarf aber der Psychologie als Hülfsmittel und ist selbst die Grundlage der Metaphysik (s. d.). Ursprung und Wert der Erkenntnis muß sie gleicherweise untersuchen, sie hat festzustellen, was der Erfahrung (der Wahrnehmung), was dem Denken angehört, wie die Grundbegriffe der Erkenntnis (naiv und wissenschaftlich) gebildet und wie sie verwertet werden, welche Berechtigung die Anwendung dieser Begriffe hat und in welchem Sinne sie genommen werden darf.
Die Erkenntnistheorien sind nach den ihnen zugrunde liegenden Methoden und Gesichtspunkten zu unterscheiden. Vorerst finden wir eine logisch-speculative, später eine psychologische, dann die »transcendentale« (s. d.) und kritische Methode, die aber auch nebeneinander hergehen. Als selbständige Wissenschaft kommt die Erkenntnistheorie erst im 17. Jahrhundert (bei LOCKE) auf.
In logisch-speculativer Weise werden erkenntnistheoretische Untersuchungen angestellt bei PLATO, ARISTOTELES, den Stoikern, Epikureern, Skeptikern, Neuplatonikern, bei AUGUSTINUS, den Scholastikern. Mit der Methodik des Erkennens befassen sich F. BACON, DESCARTES u. a. LEIBNIZ nähert sich schon der späteren kritischen Methode.
Die psychologische Erkenntnistheorie begründet LOCKE (Ess. conc. hum. understand.). Er versucht, »den Ursprung, die Gewißheit und die Ausdehnung des menschlichen Wissens, sowie die Grundlagen und Abstufungen des Glaubens, der Meinung und der Zustimmung zu erforschen« (Ess. I, ch. 1, § 2). Über eine bloße Psychologie des Erkennens geht er also doch hinaus. So auch BERKELEY und HUME.
Die »transcendentale« Erkenntnistheorie begründet KANT. Sie will die Bedingungen des Erkennens feststellen, um so die Gültigkeit und die Grenzen der Erkenntnis werten zu können. Sie fragt nicht, aus welchen psychologischen [298] Elementen die Erkenntnis sich aufbaut, sondern nach der Bedeutung der Erkenntnisfactoren für das Ziel alles Erkennenwollens. Die »Kritik der reinen Vernunft« prüft das »Vernunftvermögen überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag«, ist also »die Entscheidung der Möglichkeit einer Metaphysik überhaupt« und die Bestimmung sowohl der Quellen als des Umfanges und der Grenzen der Erkenntnis nach Principien (Krit. d. r. Vern. S. 5 f.). Die Fähigkeit der Vernunft zu »reinen Erkenntnissen a priori« ist zu prüfen (l.c. S. 581). Damit gibt K. zugleich eine Theorie der Erfahrung. Bei FICHTE, SCHELLING, HEGEL kommt die Erkenntniskritik schlecht weg. Letzterer erklärt geradezu: »Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt dasselbe untersuchen nicht anders als es erkennen. Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scholasticus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage« (Encykl. § 10). HERBART erblickt die Aufgabe der Erkenntnistheorie (= Metaphysik, (s. d.)) in der Bearbeitung der Begriffe. BENEKE verlangt von der Erkenntnistheorie eine Untersuchung der Formen und Verhältnisse des Denkens und dessen Factoren (Log. I, 5).
Nach E. ZELLER ist die Erkenntnistheorie die Wissenschaft, »welche die Bedingungen untersucht, an welche die Bildung unserer Vorstellungen durch die Natur unseres Geistes geknüpft ist, und hiernach bestimmt, ob und unter welchen Voraussetzungen der menschliche Geist zur Erkenntnis der Wahrheit befähigt ist« (Vortr. u. Abh., 2. Samml., S. 479 f.). WINDELBAND erklärt: »Die Probleme..., welche sich aus den Fragen über die Tragweite und die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und ihr Verhältnis zu der zu erkennenden Wirklichkeit erheben, bilden den Gegenstand der Erkenntnistheorie« (Gesch. d. Philos. S. 16). Unabhängig von der Psychologie ist die Erkenntniskritik nach Idealisten wie MANSEL, GREEN und Kantianern wie H. COHEN, O. LIEBMANN (Anal. d. Wirkl.2, S. 251), P. NATORP u. a., auch nach HUSSERL (Log. Unt. II, 8 ff., s. Phänomenologie, Logik). VOLKELT definiert die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft, »welche sich die Möglichkeit und Berechtigung des Erkennens in seinem vollen Umfange und von Grund aus zum Probleme macht« (Erfahr. u. Denk. S. 9). Sie ist »Theorie der Gewißheit« (l.c. S. 15; ähnlich NEUDECKER, Grundprobl. d. Erkenntnistheor. S. 3 f.), ist voraussetzungslos (l.c. S. 10). Sie beweist nicht, sondern zeigt zunächst das im Bewußtsein Vorhandene auf (l.c. S. 38 f.). »Sie will das Bewußtsein dahin führen, daß es sich die unmittelbar in ihm enthaltenen Kriterien der objectiven Gewißheit zum Bewußtsein bringt« (l.c. S. 39). Sie befolgt die »Methode der denkenden Selbstbetätigung des Bewußtseins« (l.c. S. 41). HÖFFDING betont: »Die Erkenntnistheorie untersucht die Formen und Elemente unserer Erkenntnis hinsichtlich der Frage, ob sie sich gebrauchen lassen, um das Seiende zu verstehen, während die Psychologie sie hinsichtlich ihrer tatsächlichen Entstehung untersucht, sie mögen nun brauchbar und gültig sein oder nicht« (Religionsphil. S. 85). Nach RIEHL ist die Erkenntnistheorie die »Theorie der allgemeinen Erfahrung«. »Sie hat zu zeigen, welche reale Bedeutung der Empfindung, den Verhältnissen der Empfindungen und dem. Schema ihrer Auffassung in Raum und Zeit zukomme, wie aus denselben unreflectierten Urteilsacten, durch welche gegenständliche Wahrnehmungen erzeugt werden, die allgemmeinen appercipierenden Vorstellungen (Kategorien) entspringen« (Phil. Krit. I, 11). Unabhängig von[299] der Psychologie ist die Erkenntnistheorie auch nach KÜLPE, dem sie »die Lehre von den Grundbegriffen und Grundsätzen als den materialen Voraussetzungen aller besonderen Wissenschaften« ist (Einleit. in d. Philos.2, §. 36). Nach HAGEMANN ist die Erkenntnislehre (= Noëtik, (s. d.)) von der Psychologie unabhängig (Log. u. Noetik5, S. 14). Sie ist »die Wissenschaft von der Wahrheit, der Gewißheit und den Grenzen unseres Erkennens« (l.c. S. 116 f.). Auch R. WAHLE erklärt die Erkenntnistheorie für unabhängig von der Psychologie (Kurze Erklär. d. Eth. Spin. S. 168). – Nach WUNDT ist die Erkenntnistheorie ein Teil der Logik (s. d.). Die »reale Erkenntnislehre« zerfällt in die »Erkenntnistheorie« und »Erkenntnisgeschichte«. Erstere untersucht die logische Entwicklung des Erkennens, indem sie die Entstehung der wissenschaftlichen Begriffe auf Grundlage der Denkgesetze zergliedert. Als »allgemeine Erkenntnistheorie« untersucht sie die Bedingungen, Grenzen und Principien des Erkennens überhaupt, als »Methodenlehre« (s. d.) beschäftigt sie sich mit den besonderen Gestaltungen dieser Principien in den Einzelwissenschaften (Log. I2, S. 1 ff.; Syst. d. Philos.2, S. 31; Phil. Stud. V, 48 ff.). Die Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, »die Bildung der Begriffe nach den logischen Motiven, die bei ihrer tatsächlichen Entwicklung innerhalb der Wissenschaften stattgefunden hat, nach Elimination aller Irrungen und Umwege, zur Darstellung zu bringen« (Phil. Stud. X, 6). Ohne Anhänger des »Psychologismus« (s. d.) zu sein, erklärt WUNDT doch, daß jeder Erkenntnisact als geistiger Vorgang »seinem tatsächlichen Charakter nach vor das Forum der Psychologie kommt, ehe er von der Erkenntnislehre selbst auf die ihm zustehende Bedeutung für den allgemeinen Proceß der Entwicklung des Wissens geprüft werden kann« (Einleit. in d. Philos. S. 82). W. JERUSALEM teilt die Erkenntnislehre in »Erkenntnistheorie« (die genetisch verfährt) und »Erkenntniskritik« ein, die von der Psychologie unabhängig ist (Einf. in d. Philos.).
Nach SCHUPPE fragt die Erkenntnistheorie: »Was ist das Denken? Was ist das wirkliche Sein, welches sein Object werden soll?« (Log. S. 3). Das Denken ist gleichsam in seiner Arbeit zu beobachten, die Bildung der Begriffe zu untersuchen (l.c. S. 4; ähnlich gibt SIGWART als Methode der Erkenntnistheorie an das »Achten auf das, was wir tun, wenn wir irgend welche Gegenstände vorstellen«, Log. II, 39). M. KAUFFMANN meint, die Erkenntnistheorie sei »keine folgernde oder beweisende, sondern eine aufzeigende und darlegende Wissenschaft« (Fundam. d. Erk. S. 7; so auch HUSSERL, Log. Unt. II, 20 f.). SCHUBERT-SOLDERN bezeichnet als das Gebiet der Erkenntnistheorie die »allgemeinen Elemente aller Wissenschaften in ihren allgemeinen gleichzeitigen Beziehungen«. Sie hat aus ihnen »die allgemeinen Folgerungen für die Methode wissenschaftlicher Forschung überhaupt zu ziehen und das Verhältnis der einzelnen Wissenschaften zueinander festzustellen« (Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 21. Bd., S. 155 f.). Sie »betrachtet die Welt als Datum überhaupt« (Gr. e. Erk. S. 348, 1). Hierher gehört auch teilweise ZIEHEN (Psychophysiol. Erkenntnistheor.).
Auf psychologische Erfahrung will FRIES die Erkenntnistheorie gründen (N. Krit. d. Vern. I, Vorw. S. XIX). Psychologisch ist die Erkenntnistheorie vieler englischer Philosophen, auch die von LIPPS, BRENTANO u. a. Nach UPHUES hat die Erkenntnistheorie die Entstehung unseres Weltbildes zu erklären, wobei sie der »genetischen Methode« nicht entbehren kann (Psychol. d. Erk. I, 10). Biologisch ist die Erkenntnistheorie von R. AVENARIUS (u. a.,[300] s. Erkennen), dem sie »Kritik der reinen Erfahrung«, Zurückführung der Erkenntnis auf reine, metaphysikfreie Erfahrung bedeutet. Ähnlich E. MACH Nach H. CORNELIUS zielt die Erkenntnistheorie auf »Vertiefung unserer Erklärungen durch die Prüfung des Begriffsmaterials und die Elimination der Unklarheiten aus diesem Material« (Einl. in d. Philos. S. 13). Eine »allgemeine Untersuchung des Mechanismus unserer Erkenntnis« ist notwendig (l.c. S. 162). »Psychologie im Sinne vorurteilsfreier Analyse und Beschreibung der unmittelbar gegebenen Tatsachen des Bewußtseins... ist... die unentbehrliche Grundlage, aller erkenntnistheoretischen Beweisführung« (l.c. S. 53). Auch die Entwicklung unserer Begriffe muß aufgezeigt werden (l.c. S. 168 ff.). »Zunächst sind die empirischen Daten aufzuzeigen, auf welchen die Bedeutung der Grundbegriffe der Wissenschaften beruht. Zweitens aber muß, damit die Klärung dieser Begriffe eine vollkommene sei, die Art und Weise aufgezeigt werden, wie sich auf diesen Daten unser Besitz an Begriffen aufbaut« (l.c. S. 49). Vgl. Erkenntnis, Wissenschaftslehre, Logik u.s.w.
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