Identität

[482] Identität (identitas, tautotês): Dieselbigkeit, Einerleiheit, Sich-selbstgleich-bleiben. Der Begriff der Identität entsteht durch Vergleichung eines Bewußtseinsinhalts mit diesem selbst in verschiedenen Zeiten und Räumen, aus der gleichen Reaction des Ich auf einen Bewußtseinsinhalt, dessen stetige Veränderung bei Erhaltung des Wesenszusammenhanges das Denken nötigt, ihn, oder besser das durch ihn repräsentierte Object, Ding für »dasselbe«, für identisch mit dem früher wahrgenommenen zu halten. Das Ich beurteilt etwas als »identisch« heißt: es supponiert einem Bewußtseinsinhalt das gleiche Object, es verlegt damit seine eigene Identität in das Wahrgenommene. Die Identität der Objecte ist ein Reflex, eine (empirisch fundierte) Projection der (unmittelbar erlebten, nicht beschreibbaren) Identität des Ich. Zu unterscheiden sind: »numerische« (individuelle) und »generische« Identität.

STILPO und ANTISTHENES erkennen logisch nur Identitätsurteile (s. d.) an. Als Grundbegriffe kommen das tauton und heteron bei PLATO vor (Theaet. 185 A, 186 A; Parmen. 139 D). Den Begriff der Identität bestimmt ARISTOTELES: hê tautotês henotês tis estin ê pleionôn tou einai, ê hotan chrêtai hôs pleiosin, hoion hotan legê auto hautô tauton (Met. V 9, 1018 a 7). Es gibt numerische (kat' arithmon) und generische (tô eidei) sowie accidentielle (kata symbebêkos) Identität (Met. X 3, 1054 a 32; X 8, 1058 a 18; VII 11, 1037 b 7).

»Identitas« im Sinne vontautotês schon bei PETRUS HISPANUS (PRANTL, G. d. L. III, 53). THOMAS bemerkt: »Ibi possumus identitatem dicere, ubi diferentia non invenitur« (4 phys. 230). Zu unterscheiden ist »identitas absoluta«, »id. naturae, realis«. DUNS SCOTUS: »Voco... identitatem formalem, ubi illud, quod sic dicitur idem, includit illud, cui sic est idem, in ratione sua formali« (In 1. sent. I, d. 2, qu. 71. Nach GOCLEN ist Identität »convenientia unius entis cum alio orta ex unitate alicuius tertii« Es gibt »identitas realis«, »id. rationis« (Lex. philos. p. 212). MICRAELIUS bemerkt: »Identitas est convenientia in aliquo, quando nempe res vel ad se ipsam refertur, vel ad aliam.« Es gibt: »identitas rationis – realis – primaria – secundaria – ordinaria – extraordinaria – intrinseca – extrinseca – numerica – specifica – causalis – subiectiva – generica« (Lex. philos. p. 510 f.). NICOLAUS CUSANUS spricht von der »identitas absoluta« des »maximum« und »minimum« in Gott (De vis. Dei 13).

LOCKE betont: »It is the first act of the mind, when it has any sentiment or ideas at all, to perceive its ideas, and so far as it perceives them, to know each what it is« (Ess. IV, ch. 7, § 2). »Wird ein Ding als daseiend zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort aufgefaßt, so vergleicht man es mit sich selbst zu einer andern Zeit und an einem anderen Ort und bildet danach die Vorstellungen der Dieselbigkeit und Verschiedenheit.« »Es besteht also die Dieselbigkeit dann, trenn die als dieselben erklärten Vorstellungen sich durchaus nicht von dem unterscheiden, was sie in dem Augenblick waren, wo man ihr früheres Sein betrachtet und womit man ihr gegenwärtiges vergleicht. Denn man bemerkt niemals und kann es sich nicht als möglich vorstellen, daß zwei Dinge derselben Art an demselben Orte zu derselben Zeit bestehen sollen« (l.c. II, ch. 27, § 1). Die Identität des Menschen besteht in der Teilnahme an demselben fortgesetzten Leben (l.c. § 6). Im Selbstbewußtsein (s. d.) selbst[482] besteht die persönliche Identität (l.c. § 9, 16). Nach LEIBNIZ bekundet sich im Selbstbewußtsein eine reale und zugleich eine moralische persönliche Identität (Nouv. Ess. II, ch. 27, § 9). HUME erklärt: »Wir können uns eine deutliche Vorstellung davon machen, daß ein Gegenstand, während die Zeit sich ändert, unverändert und ununterbrochen derselbe bleibt. Diese Vorstellung bezeichnen wir als Vorstellung der Identität oder Selbigkeit (sameness)« (Treat. IV, set. 6, S. 328). Sie ist eine Art der Relation (l.c. I, sct. 6, S. 26). »Genau genommen ist nicht ein Gegenstand mit sich selbst identisch..., es sei denn, daß wir darmit sagen wollen, der Gegenstand, als in einem Zeitpunkt existierender, sei identisch mit sich selber, als in einem andern Zeitpunkt existierender« (l.c. IV, sct. 2, S. 268). Es besteht aber ein »Widerstreit zwischen dem Gedanken der Identität ähnlicher Wahrnehmungen und der tatsächlichen Unterbrechung in ihrem Auftreten« (l.c. S. 273). »Da... die Einbildungskraft leicht eine Vorstellung für eine andere nimmt, wenn die Wirkung beider auf den Geist eine ähnliche ist, so ergibt sich, daß jede derartige Aufeinanderfolge miteinander in associativer Beziehung stehender Eigenschaften leicht als ein dauernder Gegenstand angesehen werden wird, der unverändert derselbe bleibt« (l.c. sct. 3, S. 289). Wir schreiben dem Gegenstand wegen der Continuität der Perception dauernde Existenz und Identität zu (l.c. sct. 6, S. 332). Kurz, die Identität ist nichts Objectives, sondern psychologisch bedingt, »lediglich eine Bestimmung, die wir ihnen [den Perceptionen] zuschreiben auf Grund der Verbindung, in die die Vorstellungen derselben in unserer Einbildungskraft geraten, dann, wenn wir über sie reflectieren« (l.c. S. 336). Die Vorstellung der persönlichen Identität folgt »aus dem ungehemmten und ununterbrochenen Fortgang des Vorstellens beim Vollzug einer Folge miteinander verknüpfter Vorstellungen« (l.c. S. 336). Nach TH. BROWN beruht die »mental identity« auf einer Überzeugung (»belief«). CHR. WOLF bestimmt: »Eadem dicuntur, quae sibi invicem substitui possunt salvo quocunqe praedicato« (Ontol. § 181).

Nach KANT ist die Identität des reinen Selbstbewußtseins eine Bedingung und die Quelle der Identität der Objecte. »Alle möglichen Erscheinungen gehören, als Vorstellungen, zu dem ganzen möglichen Selbstbewußtsein. Von diesem aber, als einer transcendentalen Vorstellung, ist die numerische Identität gewiß, weil nichts in die Erkenntnis kommen kann, ohne vermittelst dieser ursprünglichen Apperception. Da nun diese Identität notwendig in der Synthesis alles Mannigfaltigen der Erscheinungen, sofern sie empirische Erkenntnis werden soll, liegt, so sind die Erscheinungen Bedingungen a priori unterworfen« (Krit. d. r. Vern. S. 125). Die »Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten« beweist nicht die numerische Identität meines Subjects, ist nur »eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges« (Krit. d. r. Vern. S. 308). »Wenn ich die numerische Identität eines äußeren Gegenstandes durch Erfahrung erkennen will, so werde ich auf das Beharrliche derjenigen Erscheinung, worauf, als Subject, sich alles übrige als Bestimmung bezieht, achthaben und die Identität von jenem in der Zeit, da dieses wechselt, bemerken. Nun aber bin ich ein Gegenstand des inneren Sinnes, und alle Zeit ist bloß die Form des innern Sinnes. Folglich beziehe ich alle und jede meiner successiven Bestimmungen auf das numerisch Identische selbst, in aller Zeit, d. i. in der Form der innern Anschauung meiner selbst.« »In der ganzen Zeit, darin ich mir meiner bewußt bin, bin ich mir dieser Zeit, als zur Einheit meines Selbst gehörig, bewußt« (ib.).[483]

Nach J. G. FICHTE ist der höchste Trieb im Menschen »der Trieb nach Identität, nach vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst, und damit er stets mit sich übereinstimmen könne, nach Übereinstimmung alles dessen, was außer ihm ist, mit seinen notwendigen Begriffen davon« (Bestimm. d. Gelehrt. 2. Vorles.). SCHELLING bestimmt die Identität als die Form des absoluten Ich (Vom Ich S. 39). »Nur das Ich ist es, das allem, was ist, Einheit und Beharrlichkeit verleiht; alle Identität kommt nur dem im Ich Gesetzten... zu« (l.c. S. 41). Der Satz A = A (s. d.) wird erst durch das absolute Ich begründet (ib.). Im Ich sind Handeln und Sein ursprünglich identisch (Syst. d. tr. Ideal. S. 317). Die »absolute Identität« des Geistigen und Körperlichen, Subjectiven und Objectiven ist der Quell alles Seins (Naturphilos. S. 276; s. Identitätsphilosophie). HEGEL bestimmt: »Das Wesen scheint in sich oder ist reine Reflexion; so ist es nur Beziehung auf sich, nicht als unmittelbare, sondern als reflectierte, – Identität mit sich.« Das ist die »formelle oder Verstandes-Identität« (Encykl. § 115). K. ROSENKRANZ: »Das Wesen ist unmittelbar das Sein, wie es sich auf sich selbst bezieht. So ist es notwendig sich gleich. Es ist als Beziehung auf sich dasselbe, was es an sich ist. Die Gleichheit ist daher auch die durchgängige« (Syst. d. Wiss. S. 50). BOLZANO sieht in der Einerleiheit einen Begriff, »der aus der Vergleichung eines Dinges (lediglich) mit sich selbst entspringt« (Betrachtungen üb. ein. Gegenstände d. Elementargeom. 1804, S. 44). Nach VOLKMANN geht der Identitätsbegriff aus dem Bewußtwerden der Notwendigkeit des analytischen Urteils hervor (Lehrb. d. Psychol. II4, 277). »Der Identität und Dependenz werden wir bewußt, indem mit dem Bewußtsein bestimmter Vorstellungen das Bewußtsein jener Förderungen zusammenfällt, das den Vorstellungen innerhalb des Urteils aus ihrer Zusammengehörigkeit erwächst« (l.c. S. 338). DESTUTT DE TRACY: »Identité veut dire similitude parfaite et complète« (Elem. d'idéol. III, ch. 1, p. 160).

Nach MEINONG ist die Identität an den Umstand geknüpft, daß ein Ding an mehreren Relationen participiert (Hume-Stud. II, 137 ff., 140 f.). UPHUES: »Wir nennen das identisch oder dasselbe, was als gemeinschaftliches Relationsglied mehrerer Relationen auftritt« (Psychol. d. Erk. I, 125). Nach MARTY heißt identisch das, »wovon das eine mit Recht dem andern zuerkannt werden kann«, »dasjenige, wovon in Wahrheit das eine das andere ist« (Viertelj. f. wiss. Philos. 19. Bd., S. 76 f.). Nach B. ERDMANN ist Identität »ein Merkmal, das jedem Gegenstande eigen« ist (Log. I, 168). Identität ist »kein allgemeines Merkmal des Bewußten als solchen..., sondern des vorgestellten Bewußten« (l.c. S. 170). »Das Merkmal der Identität mit sich selbst ist ein ursprüngliches, kein abgeleitetes« (ib.). Nach SCHUPPE bedeutet »Identität« entweder, »daß zwei Eindrücke, wenn wir von dem unterscheidenden Wann absehen, dasselbe sind«, oder daß ein Bestimmtes, zweimal wahrgenommen oder zweimal gedacht, als dasselbe bewußt ist (Log. S. 39). Es kann »bei allen Fragen, ob noch dasselbe oder etwas anderes (Neues), nur auf die mitgebrachten Gesichtspunkte, auf welche das Interesse sich richtet, ankommen« (l.c. S. 122, vgl. S. 45). Nach SCHUBERT-SOLDERN beruht die Identität des Dinges »auf der Beständigkeit seiner inhaltlich bestimmten Causalverhältnisse« (Gr. e. Erk. S. 19) Nach H. CORNELIUS beruht sie auf denselben Wahrnehmungsmöglichkeiten (Psychol. S. 98 f.). »Identität ist keine Beziehung zwischen Inhalten als solchen – zwei Inhalte können niemals identisch sein, da sie dann eben nicht zwei Inhalte wären, sondern nur einer. Identität kann vielmehr nur zwischen den Bedeutungen[484] verschiedener Symbole bestehen, insofern diese tatsächlich dieselbe Bedeutung besitzen« (Einl. in d. Phil. S. 247). Nach WUNDT beruht die Relation der Identität in ihrer Anwendung stets »auf einem Denkproceß..., der nicht bloß das Gleiche gleichsetzt, sondern auch, was zur Identität unbrauchbar ist, davon absondert« (Log. I, 114). RIEHL sieht in der Identität das Grundprincip alles Erkennens. Das Identitätsbewußtsein ist die »Quelle aller apriorischen Begriffe« (Philos. Krit. II, 1, 78). Es ist »das allgemeine logische Princip der Erfahrung« (ib.). »Einerseits ist diese Einheit und Sich-selbst-Gleichheit aller bewußten Tätigkeit das Ergebnis beharrlicher Erfahrungsgrundlagen, anderseits ist sie das Princip und die erste Bedingung ihrer Erkenntnis« (l.c. II 1, 234). »Damit im Wechsel der Eindrücke eine beharrliche Ich-Vorstellung entspringen kann, muß der Inhalt der Erfahrung außer der Verschiedenheit und Veränderung eine durchgreifende Gleichförmigkeit zeigen. Um aber das Gleiche als Gleiches zu erkennen, ist erforderlich, daß vor allem die Erkenntnistätigkeit selber gleichförmig ist, daß das Bewußtsein sich als dasselbe weiß und erhält« (ib.). »Nichts kann erfahren werden, was nicht zu einem Bewußtsein vereinigt gedacht werden kann« (l.c. S. 235). H. COHEN betont: »Die Selbigkeit des Seins ist ein Reflex der Identität des Denkens« (Log. S. 78). Die Identität scheidet das Urteil von der Vorstellung. »Die Veränderungen, denen die Vorstellung unterliegen mag, tangieren das Urteil nicht. Die Werte, die dem Urteil entspringen, sind unveränderlich« (l.c. S. 79). Die Identität macht das Urteil zum Urteil (ib.). Ähnlich M. PALÁGYI: »Dieselbe Wahrheit ist es..., die sich in unendlich vielen gleichlautenden Urteilsacten darstellen kann« (Die Log. auf d. Scheidewege S. 167). »Erst indem der urteilende Geist des Menschen in dem vergänglichen Eindruck etwas Unvergängliches findet, erhält der Eindruck eine Dieselbigkeit, eine Identität, d.h. er ist konstatiert oder identificiert« (l.c. S. 217). Vgl. Identität, Satz der; Identitätsphilosophie, Selbstbewußtsein, Ich.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 482-485.
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