Klarheit

[553] Klarheit (Lucidität) im psychologischen Sinne bedeutet die Eigenschaft einer Vorstellung, mit ihrem ganzen Inhalte in bestimmtem Bewußtseinsgrade percipiert zu werden. Die Klarheit ist eine Wirkung der Aufmerksamkeit (s d.); der Proceß der Klarwerdung, Klarmachung heißt Apperception (s. d.). Eine Vorstellung ist um so klarer, mit um so größerer psychischer Energie sie auftritt, sich zu behaupten vermag; klar ist die vom Willen festgehaltene, ausgewählte Vorstellung. Die Deutlichkeit einer Vorstellung besteht in ihrer rechten Unterschiedenheit, Gesondertheit von anderen Vorstellungen. Gegensätze: Dunkelheit und Verworrenheit. Logisch besteht die Klarheit eines Urteils in der Verständlichkeit (s. d.) und (ev. in der) Evidenz (s. d.) desselben[553] Ein klarer Gedanke ist ein solcher, dessen Inhalt sich in bestimmter, eindeutiger Weise mit allen seinen Teilen dem Bewußtsein darstellt.

Die Stoiker erblicken in der sinnlichen Klarheit (enargeia) der Vorstellungen ein Merkmal ihrer Objectivität (vgl. Kataleptische Vorstellung). Den Wert der enargeia der Wahrnehmung für die Erkenntnis betonen die Epikureer (vgl. Sext. Empir. adv. Math. VII, 216).

In logischem Sinne kommt »confuse« – »distincte« bei Scholastikern vor, so bei WILHELM VON OCCAM (vgl. PRANTL, G. d. L. III, 357; »clare« und »distincte« bei SUAREZ (Met. disp. 8, 3). Nach GOCLEN ist jene Erkenntnis deutlich, »qua cognoscitur etiam quid sit res« (Lex. philos. p. 382).

Bei DESCARTES wird das »clare et distincte« von Bedeutung, weil er in der Klarheit und Deutlichkeit, in der subjectiven aber logischen Gewißheit und Bestimmtheit der Erkenntnis das Kriterium der Wahrheit (s. d.) erblickt. Klar ist, was dem aufmerksamen Geiste gegenwärtig und offen ist; deutlich, was zugleich von allem anderen im Bewußtsein geschieden vorgestellt wird. »Claram voco illam (perceptionem), quae menti attendenti praesens et aperta est; distinctam autem illam, quae cum clara sit, ab omnibus aliis ita seiuncta est et praecisa, ut nihil plane aliud quam quod clarum est in se contineat« (Princ. philos. I, 45). Aber nur das wirklich klar und deutlich Gedachte hat Anspruch auf Wahrheit (Medit. III). Höchste Klarheit und Gewißheit hat das, was dem »lumen naturale« (s. d.) entspringt. Nach der Logik von PORT-ROYAL ist eine Idee klar, wenn sie uns lebhaft ergreift (I, 8 f.). LOCKE bestimmt: »As a clear idea is that whereof the mind has such a fall and evident perception, as it does receive from an outward object operating duly in a well disposed organ; so a distinct idea is that wherein the mind perceives a difference from all other« (Ess II, ch. 29, § 4). LEIBNIZ definiert: »Clara cognitio est, cum habeo unde rem repraesentatam agnoscere possim. – Distincta notio est qualem de auro habent decimastae per notas scilicet et ex anima sufficientia ad rem ab aliis omnibus corporibus similibus discernendam« (Erdm. p. 79). Das Gegenteil der deutlichen sind die verworrenen (s. d.) Vorstellungen. Es gibt dunkle, unterbewußte (s. d.) Vorstellungen. CHR. WOLF definiert: »Si quod percipimus agnoscere vel a perceptibilibus ceteris distinguere valemus, perceptionem habemus, clara est.« »Si in re percepta plura sigillatim enunciabilia distinguimus, perceptio clara dicitur distincta« (Psychol. empir. § 37 f.). »Also entsteht die Klarheit aus der Bemerkung des Unterschiedes im Mannigfaltigen; die Dunkelheit aber aus dem Mangel dieser Bemerkung« (Vern. Gled. I, § 201; § 732). Nach BILFINGER ist das Denken klar, »si sufficiat ad rem denuo undecumque oblatam agnoscendum«, deutlich »si et partes rei sive notas eius seorsim discernere possumus« (Dilucid. § 240). CRUSIUS bestimmt die Deutlichkeit als »diejenige Vollkommenheit der Gedanken, da sich dieselben von allen anderen unterscheiden lassen« (Vernunftwahrh. § 8). Nach LAMBERT ist ein Begriff klar, wenn wir durch ihn eine Sache wiedererkennen können; er ist deutlich, wenn alle seine Merkmale klar sind (N. Organ. I, § 9). – GARVE erklärt: »Die Einrichtung der Natur hält zwischen dem dunklen und dem hellen Teile unserer Vorstellungen ein beständiges Gleichgewicht. Sobald die einen an Klarheit steigen, so sinken die andern in eine tiefe Finsternis, und jede Annäherung der Seele auf einen Gegenstand ist zugleich eine Entfernung von den übrigen« (Samml. einig. Abhandl. I, 31).[554]

KANT definiert: »Das Bewußtsein seiner Vorstellungen, welches zur Unterscheidung eines Gegenstandes von anderen zurecht, ist Klarheit. Dasjenige aber, wodurch auch die Zusammensetzung der Vorstellungen klar wird, heißt Deutlichkeit« (Anthropol. I, § 6). Ein Begriff, der durch ein Urteil klar ist, ist deutlich (WW. I, 71). Die »discursive Deutlichkeit« durch Begriffe ist von der »intuitiven« Deutlichkeit zu unterscheiden (Krit. d. r. Vern. S. 9). »Dunkle Vorstellungen sind diejenigen, deren man sich nicht bewußt ist« (Unters. üb. d. Deutlichk. d. Grund(s. d.) nat. Theol. u. d. Mor. II, S. 82). G. E. SCHULZE: »Wird der Gegenstand, worauf sich ein Begriff bezieht, von dem durch andere Begriffe Vorgestellten unterschieden, so heißt der Begriff ein klarer, im Gegenteile aber ein dunkler.« »Wird das Mannigfaltige an dem durch einen Begriff Vorgestellten unterschieden oder abgesondert voneinander gedacht, so ist er deutlich« (Allg. Log.3, S. 217 ff.). Die Klarheit und Deutlichkeit des Wahrnehmens hängt »von unserer Selbstmacht und von der dadurch bestimmten Richtung der Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Wahrnehmung« ab (Psych. Anthrop.2, S. 140). Nach KIESEWETTER ist Deutlichkeit »möglichste Einheit des Mannigfaltigen in einer Vorstellung« (Gr. d. Log. § 62). KRUG erklärt: »Ungeachtet das Bewußtsein beim Denken der Begriffe unendlicher Abstufungen fähig ist, so lassen sich doch zwei Hauptgrade unterscheiden... Entweder tritt die Einheit oder die Mannigfaltigkeit des durch den Begriff Verknüpften stärker ins Bewußtsein. Im ersten Falle findet Klarheit (claritas), in zweiten Deutlichkeit (perspicuitas) des Begriffes statt« (Handb. d. Philos. I, S. 136). Klar ist ein Begriff, wenn wir imstande sind, »das durch ihn im ganzen Vorgestellte von dem durch andere Begriffe Vorgestellten... zu unterscheiden«. Deutlich ist er zugleich, wenn wir auch das durch ihn verknüpfte Mannigfaltige zu unterscheiden vermögen (l.c. I, S. 138 f.). »Wieferne man sich des in einem Begriffe enthaltenen Mannigfaltigen, also seines Inhaltes, mit Klarheit bewußt, hat der Begriff innere Deutlichkeit (perspicuitas intensiva). Wieferne man sich aber des unter einem Begriffe befaßten Mannigfaltigen, also seines Umfanges, mit Klarheit bewußt, hat der Begriff äußere Deutlichkeit (perspicuitas extensiva)« (l.c. I, 138 f.). FRIES bestimmt: »Klar ist ein Begriff, wenn ich ihn im ganzen abgesondert für sich als Schema der Einbildungskraft vorstelle, und deutlich ist er endlich, wenn ich ihn bestimmt nach dem Verhältnis von Inhalt und Sphäre denke, also noch Merkmale in ihm unterscheide« (Syst. d. Log. S. 111). Klar sind jene Vorstellungen, »die wir in uns haben und auch gleich in uns gewahr werden« (l.c. S. 47). Nach BOLZANO ist eine Vorstellung klar, »wenn wir sie uns selbst wieder vorstellen, und zwar dadurch, daß wir sie anschauen« (Wissenschaftslehre III, 29). BENEKE betrachtet die psychische Klarheit als Product einer vielfachen gleichartigen Verschmelzung von seelischen Gebilden (Lehrb. d. Psychol.3, S. 44). CALKER erklärt: »Klar ist der Begriff, wenn derselbe von andern Vorstellungen unterschieden und für sich allein gedacht wird.« »Deutlich ist der Begriff, wenn derselbe durch die Unterscheidung und Zusammenfassung aller Teilvorstellungen seines Inhalts und Umfangs gedacht wird« (Denklehre S. 299 f.). Im Sinne HERBARTS (s. Hemmung) sagt VOLKMANN: »Am Klarheitsgrade der Vorstellung werden wir indirect der Größe des Vorstellens bewußt« (Lehrb. d. Psychol. I4, 342). Nach DROBISCH ist ein Begriff deutlich, wenn sein Inhalt vollständig bekannt ist (N. Darst. d. Log. § 116). B. ERDMANN erklärt: »Vorstellungen werden klar genannt, sofern ihre Gegenstände von anderen unterschieden werden können; anderenfalls sind[555] sie dunkel. Sie sind deutlich, sofern die Merkmale ihrer Gegenstände gegeneinander klar sind; anderenfalls undeutlich oder verworren« (Log. I, 156). – R. AVENARIUS nennt die Klarheit eines Aussageinhaltes »Abhebung«. EHRENFELS versteht unter »Lucidität die größere Klarheit oder Helligkeit, durch welche sich die Vorstellungen auszeichnen, auf welche die Aufmerksamkeit gerichtet ist« (Syst. d. Werttheor. I, 253).

WUNDT betont die Tatsache, daß das Bewußtsein (s. d.) in verschiedenen Klarheitsgraden auftritt. Ihr Maß hat die Klarheit in der verschiedenen Nachdauer psychischer Vorgänge, in der Continuität der geistigen Zustände (Syst. d. Philos.9, S. 565 ff.). Die Klarheit einer Vorstellung wird »gleichzeitig durch die Stärke ihrer Empfindungselemente und durch die Schärfe ihrer Apperception bedingt«. Deutlich ist eine Vorstellung, »wenn sie von andern im Bewußtsein anwesenden scharf unterschieden wird« (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 270). Es gibt eine »Klarheitsschwelle« (l.c. II4, 272). Die Klarheit im engeren Sinne ist eine Wirkung der Aufmerksamkeit (s. d.), der Apperception (s. d.). Um den »Blickpunkt« der Aufmerksamkeit sind die Vorstellungen »in einer Stufenfolge abnehmender Klarheit geordnet« (Gr. d. Psychol.5, S. 185). Aus der Reihe aufeinander folgender Vorstellungen in jedem Momente ist »die unmittelbar gegenwärtige in unserer Auffassung bevorzugt«. »Ähnlich sind nun auch in dem simultanen Zusammenhang des Bewußtseins... einzelne Inhalte bevorzugt. In beiden Fällen bezeichnen wir diese Unterschiede der Auffassung als solche der Klarheit und Deutlichkeit, wobei wir unter der ersten die relativ günstigere Auffassung des Inhalts selbst, unter der zweiten die in der Regel damit verbundene bestimmtere Abgrenzung gegenüber andern psychischen Inhalten verstehen« (l.c. S. 249 ff.). Vgl. Unbewußt.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 553-556.
Lizenz:
Faksimiles:
553 | 554 | 555 | 556
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon