Vollkommenheit

[653] Vollkommenheit (perfectio) ist ein Norm- oder Idealbegriff, entspringend der Idee, die wir uns von der absoluten Vollständigkeit, Vollendung alles dessen, was zu einem Inbegriff von Dingen gehört, bilden. Vollkommen ist etwas, relativ, sofern es alles aufweist, was der Begriff, die Idee der Sache fordert. Absolute Vollkommenheit eines Wesens ist ein Ideal, das nur annähernd verwirklicht erscheint, so daß absolute Vollkommenheit real nur dem höchsten Wesen, d.h. dem unendlichen Inbegriff alles Seins in höchster Einheit, Gott (s. d.), eignet. Eine Tendenz nach Vervollkommnung, nach Entfaltung und Steigerung der Anlagen und Kräfte ist den Lebewesen in verschiedenem Grade eigen. Sie ist ein wesentlicher Factor der Evolution (s. d.) und beim Menschen der Culturentwicklung. Die Idee der Cultur (s. d.) ist nichts anderes als die Idee möglichster Vervollkommnung des Menschen im Sinne der Humanität (s. d.).

ARISTOTELES erklärt: teleion legetai hen men hou mê estin exô ti labein mêde hen morion, hoion chronos teleios hekastou houtos hou mê estin exô labein chronon tina hos toutou meros esti tou chronou. kai to kat' aretên kai to eu mê echon hyperbolên pros to genos, hoion teleios iatros kai teleios aulêtês, hotan kata to eidos tês oikeias aretês mêden elleipôsin (Met. V 16, 1021b 12 squ.). Die Tugend (s. d.) ist eine teleiôsis (ib.). – Im ontologischen (s. d.) Argument spielt der Vollkommenheitsbegriff eine Rolle, wie überhaupt in der mittelalterlichen Philosophie und noch darüber hinaus Vollkommenheit und Realität (s. d.) aufeinander bezogen werden. Nach THOMAS ist Vollkommenheit die »bonitas« eines Wesens (Contr. gent. I, 38). »Perfectio enim rei consistit in hoc, quod pertingat ad finem« (De nom. 1, 2). Die »perfectio prima« ist jene, »secundum quod res in sua substantia est perfecta«, die »perfectio secunda« ist der Zweck eines Dinges (Sum. th. I, 6, 3. 1, 73, 1. Contr. gent. I, 50. vgl. II, 46). – Nach GOCLEN ist Vollkommenheit »constitutio entis in summo integritatis et bonitatis sibi convenientis gradu« (Lex. philos p. 814). MICRAELIUS bestimmt: »Perfectio est carentia defectus.« »Perfectum est, cui ad essentiam nihil deest.« Die »perfectio essentialis« ist »prima«, die »perfectio accidentalis« »secunda«. Die »perfectio eminens« kommt Gott zu (Lex. Philos. p. 812 f.).

Realität und Vollkommenheit identificiert SPINOZA dahin, daß ein Wesen um so vollkommener ist, je realer, seinskräftiger es ist. »Sein« ist eine Vollkommenheit (De Deo I, 4). »Per perfectionem in genere realitatem... intelligam, hoc est, rei cuiuscumque essentium, quatenus certo modo existit et operatur, nulla ipsius durationis habita ratione« (Eth. 1 V, praef.). Sofern wir die Wesen in bezug auf die allgemeine Idee des Seins ergleichen und finden, daß manche »plus entitatis seu realitatis« haben als andere, »eatenus alia aliis perfectiora esse dicimus. et quatenus iisdem aliquid tribuimus, quod negationom[653] nom involvit, ut terminus, finis, impotentia etc., eatenus ipsa imperfecta appellamus, quia nostram mentem non aeque afficiunt, ac illa, quae perfecta vocamus, et non quod ipsis aliquid, quod suum sit, deficiat vel quod natura peccaverit« (ib.). Nach LEIBNIZ ist Vollkommenheit »gradus realitatis positivae« (Epist. ad Wolf.), unbedingte Realität (Theod. I B, § 33), »Erhöhung des Wesens« (Gerh. VII, 87). Das Universum ist als Ganzes vollkommen (Erdm. p. 758). CHR. WOLF definiert: »Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno« (Ontolog. § 503). Die Vollkommenheit ist »vera« oder »apparens« (Psychol. empir. § 510). Vollkommenheit ist »die Zusammenstimmung des Mächtigen« (Vern. Ged. I, § 152). BILFINGER erklärt: »Perfectum, cuius omnia consentiunt« (Diluc. § 122). Nach CRUSIUS ist Vollkommenheit »die Summe der positiven Realität, welche man einem Dinge zuschreibet« (Vernunftwahrh. § 180). Nach PLATNER ist Vollkommenheit »die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem guten Erfolg« (Philos. Aphor. I, § 1036). »Vollkommenheit ist alles, was tauglich ist zum Guten.« Es gibt »innerliche« und »äußerliche« Vollkommenheit. »Eine vollkommene Welt wäre... eine solche, in welcher alles zusammenstimmte zu der größten möglichen Glückseligkeit aller möglichen lebendigen Wesen« (Log. u. Met. S. 162 ff.). Nach COCHIUS ist der Trieb zur »Erweiterung«, zur Vollkommenheit ein Grundtrieb des Menschen (Üb. d. Neigungen). Ähnlich lehrt MENDELSSOHN (Philos. Schrift I, 20). AD. WEISHAUPT erklärt: »Meine innere Vollkommenheit ist... mein Zweck. alles übrige ist Mittel, um zu dieser zu gelangen. – Aber diese innere Vollkommenheit besteht in der Vollkommenheit meiner vorzüglichsten Kräfte. Diese sind Wille und Verstand« (Üb. Material. u. Idealism. S. 210 ff.).

KANT bemerkt: »Das Wort Vollkommenheit ist mancher Mißdeutung ausgesetzt. Es wird bisweilen als ein zur Transcendentalphilosophie gehörender Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein Ding ausmacht, – dann aber auch, als zur Teleologie gehörend, so verstanden, daß es die Zusammenstimmung der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwecke bedeutet. Man könnte die Vollkommenheit in der ersten Bedeutung die quantitative (materiale), in der zweiten die qualitative (formale) Vollkommenheit nennen. Jene kann nur eine sein... Von dieser aber kann es in einem Dinge mehrere geben.« Zweck des Handelns ist für den Menschen die Vollkommenheit als »Cultur seines Vermögens«, des Verstandes und Willens (Met. d. Sitten II, S. 14 f.). Vollkommene Pflicht ist »diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet« (Grundleg. zur Met. d. Sitt. 2. Abschn. S. 56). – Nach KIESEWETTER ist Vollkommenheit »Vollständigkeit eines Dinges in seiner Art« (Gr. d. Log. S. 244).

J. G. FICHTE erklärt, Endziel des Menschen sei seine vollkommene Übereinstimmung mit sich selbst, d.h. »Vervollkommnung ins unendliche« (Üb. d. Bestimm. d. Gelehrten 1. Vorles., S. 13 f.). Nach HEGEL wirkt in der Geschichte ein »Trieb der Perfectibilität«. Die geistige Entwicklung ist ein Kampf des Geistes gegen sich selbst (Philos. d. Gesch. I, S. 51). Nach ZEISING ist Vollkommenheit Allheit, Göttlichkeit (Ästhet. Forsch. S. 120 f.). Nach LOTZE besteh eine Tendenz der Wesen auf Vervollkommnung ihrer inneren Zustände (Mikrok. I2, 38). Nach HERBART u. a. ist die Vollkommenheit eine der praktisch-sittlichen Ideen (s. d.) (vgl. ALLHIN, Gr. d. allgem. Eth. S. 118 ff.). Nach ULRICI ist der Begriff der Vollkommenheit a priori, eine unserem Denken immanente Norm, eine ethische Kategorie (Gott u. d Nat. S. 601), die Urkategorie[654] der Ethik (ib.). HAGEMANN definiert: »Vollkommen ist das Sein, welches zu seiner Fülle gekommen ist, also diejenigen Bestimmtheiten oder Realitäten hat, die es seinem Begriffe nach haben kann oder seiner Bestimmung nach haben soll. Dasjenige Sein, welches lautere Realität ohne irgend einen Mangel ist, nennen wir absolut vollkommen, relativ vollkommen hingegen das Sein, welches diejenigen Realitäten hat, die ihm als diesem bestimmten Sein nicht Fehlen dürfen« (Met.2, S. 18). Vollkommen nennen wir, nach C. STANGE, »einen Gegenstand, bei dem alle die Merkmale, welche in dem Allgemeinbegriff des Gegenstandes enthalten sind, sich nachweisen lassen« (Einl. in d. Eth. lI, 61).. v. HARTMANN erklärt: »Der Begriff der Vollkommenheit hat nur in der Sphäre des Endlichen und Relativen einen Sinn, wo es Gattungen, Exemplare und Ideale gibt, und die Exemplare mehr oder minder dem Gattungsideal entsprechen können. in der Sphäre des Absoluten verliert der Begriff jeden Sinn« (Zur Gesch. u. Begründ. d. Pessimism.2, S. 311 f.). Nach RABIER ist vollkommen »qui est complet, achevé, ce à quoi on ne peut rien ajouter« (Psychol. p. 457) Vgl. JANET, Princ. de mét. II, 95 ff.. FOUILLÉE, Psychol. des id.-forc. II, 99 ff. – Vgl. Perfectionismus, Sittlichkeit, Ästhetik.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 653-655.
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