Spiel

[416] Spiel ist, im Unterschiede von der Arbeit, jede Tätigkeit, die um ihrer selbst willen, ohne außer ihr liegenden Zweck, rein um der mit ihr verbundenen Lust willen, und meist in Nachahmung einer ernsten Arbeit oder Tätigkeit ausgeübt wird. Der »Spieltrieb« besteht in latenten Energien, die, wenn unbenützt durch die ernste Arbeit, nach Betätigung verlangen. Durch das Spielen wird die Einseitigkeit der Betätigung des Organismus vielfach ausgeglichen. Zugleich dient das Spiel (in der Jugend) als Vorübung für den Lebenskampf, für praktische Arbeit und ist demnach biologisch nützlich. Dies sowie die[416] Erweckung socialer Gefühle im Zusammenspielen machen das Spiel auch für die Pädagogik wichtig. Zu unterscheiden sind Bewegungs- (Tanz-, Kampf-, Jagd- u. a. Spiele) und geistige Spiele. letztere zerfallen in Empfindungs-, Vorstellungs-, Phantasie-, Gedankenspiele u. dgl. Nicht jedes Spiel ist bloß tändelnde Spielerei, so vor allem die Kunst und das ästhetische Genießen: diese sind (teilweise) eine spielende Betätigung, eine in sich selbst Genüge findende Tätigkeit der (productiven und reproductiven) Phantasie (s. Ästhetik).

Durch eine Motivverschiebung (s. d.) und durch ihre Leichtigkeit und Geübtheit kann die Arbeit selbst zum »Spiele« werden.

Die Theorien des Spieles betonen teils die Erholung durch das Spiel, teils die Nachahmung der Arbeit, teils den dem Spiele zugrunde liegenden Kraftüberschuß, teils die durch das Spiel gegebene »Einübung«, teils die Ergänzung der Einseitigkeiten des Lebens durch das Spiel.

Eine Erholungstheorie gibt schon der Jesuit J. C. BULENGERUS (De ludis privatis ac domesticis veterum 1627, p. 1, citiert bei K. GROOS). Nach SUABEDISSEN ist das Spiel »eine Tätigkeit, die zugleich Abspannung, Nachlassung, also keine Arbeit ist, und eine Ruhe, die zugleich Regung und Bewegung ist« (Gdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 236). Sie findet sich ferner bei SCHALLER (Das Spiel u. d. Spiele, 1861) und bei LAZARUS. Nach ihm ist jedes Spiel »eine Tätigkeit, mit der Absicht unternommen, Lust durch sie zu gewinnen«, Tätigkeit der Erholung, des Genusses, des Scheines (Üb. d. Reize d. Spiels 1863, S. 12 ff.), »freie, ziellose, ungebundene, in sich selbst vergnügte Tätigkeit« (l. c. S. 23), die aber auch zur Übung und Ausbildung der Kräfte beiträgt l. c. S. 25). Es gibt keinen specifischen »Spieltrieb« (l. c. S. 45 ff.). Die Erholung ist ein Erfordernis für die geistigen Organe, aber nicht die Erholung als träge Ruhe (l. c. S. 49 ff.). Die Spiele sind »Abbilder der verschiedensten Lebensverhältnisse« (l. c. S. 110). »gleich groß ist die Sehnsucht, der Welt zu entfliehen und doch all unser Tun mit den Spiegelbildern derselben zu erfüllen und zu befruchten« (l. c. S. 111). Die Kunst geht über das Spiel hinaus, sie hat »eine objective Bedeutung, welche sie aus dem Kreise des Spiels gänzlich hinaushebt« (l. c. S. 140). »Mag immerhin die Schöpfung des Schönen in seinen ersten Anfängen mit der Neigung des Menschen zum Spiel zusammenhängen oder gar identisch sein: das Wesen, die Bedeutung, der Wert und die Wirkung der Kunst wächst weit über die des Spieles hinaus« (l. c. S. 141).

Die Kraftüberschuß-Theorie begründet SCHILLER. »Das Tier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Tätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichtum an Kraft diese Triebfeder ist, das überflüssige Leben sich selbst zur Tätigkeit stachelt« (Ästhet. Erzieh. d. Mensch. 27. Br.) JEAN PAUL bemerkt: »Das Spielen ist anfangs der verarbeitete Überschuß der geistigen und der körperlichen Kräfte zugleich« (Levana, § 49). Und BENEKE: »Das Kind verwendet auf die Spiele zunächst seine überschüssige Kraft« (Erziehungs- u. Unterrichtslehre 1835, I, 131). – Neu begründet diese Theorie H. SPENCER als Lehre vom »overflow of energy«. Er betont, das Spiel sei Selbstzweck, befriedige unmittelbar, entspringe einem Überschuß an Lebenskraft in den Organen, welche nach adäquater functioneller Beschäftigung verlangen (Psychol. II, § 533 f., S. 706 ff.). Das Spiel ist »eine künstliche Übung von Kräften, die in Ermangelung ihrer natürlichen Übung so sehr bereit sind, in Wirksamkeit zu treten, daß sie, um diese zu ersetzen, in nachahmenden oder vortäuschenden Tätigkeiten sich Luft machen« (l. c. S. 710 ff.). Ähnlich lehrt H. HÖFFDING (Psychol. S. 369 ff.),[417] auch L. DUMONT (Vergn. u. Schm. S. 194). Als uninteressierte Betätigung receptiver und activer Functionen des psychophysischen Organismus bestimmt das Spiel GRANT ALLEN (Physiol. Ästhet.). Nach RIBOT beruht das (ästhetische) Spiel nur einem »superflue« von Activität, welche sich ausgibt »en une combinaison d'images et aboutit à une création qui a son but en elle-même« (Psychol. d. sent. p. 323). Die Phantasie hat ein »besoin de créer une image créatrice« »le besoin de supposer au monde des sens un autre monde sorti de l'homme« (ib.).

Nach E. DÜHRING ist das Spiel »die einzige Arbeit des Kindes, und es ist ihm ebenso Bedürfnis, als dem gereifteren Alter schaffende Tätigkeit«. Es hat seinen Zweck in der harmonischen Äußerung unserer Fähigkeiten und Kräfte (Wert d. Leb.3, S. 94). – TH. ZIEGLER erklärt: »Lebenslust, Betätigung der Kraft und Kraftgefühl, also kurz gesagt das Gefühl der Lust als solches in seiner ureigensten und ursprünglichsten Bedeutung ist der Ausgangspunkt und der einzige Zweck des Spiels beim Kind. dazu kommt dann der Nachahmungstrieb« (Das Gef.2, S. 236). WUNDT bemerkt: »Wir betrachten gewisse Handlungen höherer Tiere dann als Spiele, wenn sie uns als Nachahmungen zwecktätiger Willenshandlungen erscheinen« (Vorles.2, S. 388). Das Spiel ist »das Kind der Arbeit« (Eth.2 S. 170). Die Freude an der Arbeit führt zu freien Wiederholungen, zur Tätigkeit als Selbstzweck (l. c. S. 170 ff.). Das Kind übt im Spiele, was es einst zu leisten hat und andere leisten sieht (l. c. S. 172). Der Spieltrieb des Kindes entsteht, indem sich die »ungehemmte Beziehung und Verknüpfung der Phantasiebilder mit Willensantrieben verbindet, die den Vorstellungen gewisse, wenn auch noch so dürftige Anhaltspunkte in der unmittelbaren Sinneswahrnehmung zu schaffen suchen.« »Das ursprüngliche Spiel des Kindes ist ganz und gar Phantasiespiel, während das des Erwachsenen... fast ebenso einseitig Verstandesspiel ist« (Gr. d. Psychol.5, S. 355 f.).

Nach K. GROOS beruht der Lustwert des Spiels auf einem Vergnügen, das rein innerhalb der Spielsphäre liegt (Der ästhet. Genuß, S. 14). Die wahren Ursachen des Spiels liegen in angeborenen Trieben, Bedürfnissen (l. c. S. 16). Das Spiel ist »ein Ergebnis der natürlichen Auslese«, es hat biologische Bedeutung, dient dazu, die vererbten Instincte abzuschwächen und so die Entwicklung der Intelligenz zu zeitigen. Die 'überschüssige Nervenkraft' ist nur eine besonders günstige Bedingung, nicht die Ursache des Spiels (Spiele d. Tiere S. 20 ff.). Die Jugendzeit ist des Spieles wegen da, denn nur so ist es möglich, »die – für sich allein ungenügenden – ererbten Bahnen durch individuelle Erfahrung so zu vervollkommnen, daß sie den Aufgaben des Lebens gewachsen sind« (l. c. S. 68).»Das biologische Kriterium des Spiels besteht darin, daß wir es nicht mit der ernstlichen Ausübung, sondern nur mit der Vorübung und Einübung der betreffenden Triebe zu tun haben. Eine solche Übung ist, weil es sich um die Befriedigung von Bedürfnissen handelt, von Lustgefühlen begleitet. Daher entspricht dem biologischen das psychologische Kriterium: wo eine Tätigkeit rein um der Lust an der Tätigkeit selbst willen stattfindet, da ist ein Spiel vorhanden« (Spiele d. Mensch. S. 7). Das Spiel ist die »Einübung unfertiger Anlagen« deren Ergänzung zur Gleichwertigkeit mit fertigen Instincten und in einer Höherentwicklung des Ererbten »zu einer Anpassungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit, die gerade bei vollkommen vererbten Anlagen unmöglich wäre« (l. c. S. 485). Lust am Reiz, am angenehmen, am intensiven Reiz (l. c. S. 496), Freude am »Ursachesein«, am »Auffinden von Causalbeziehungen«, Halten des Scheines für wirklich und doch nicht Verwechselung mit der Wirklichkeit[418] sind Momente des Spiels (l. c. S. 190, 495. Spiele der Tiere, S. 336). »Das reale Ich fühlt sich als Ursache der Scheinvorstellungen und Scheingefühle, die es freiwillig aus sich heraus erzeugt. und dieses Gefühl des Ursacheseins wird unbewußt in die Scheinwelt hinübergeleitet und gibt ihr damit einen von der Wirklichkeit verschiedenen Charakter« (Spiele d. Tiere, S. 327). Der ästhetische Genuß ist ein »spielendes sensorisches Erleben« (Spiele d. Mensch. S. 505). Die Einübungstheorie auch bei BALDWIN (Diction. of philos.). – K. LANGE versteht unter Spiel »jede bewußte und freiwillige Tätigkeit des Menschen, durch die er sich und anderen ein von praktischen Interessen losgelöstes, durch einen der beiden oberen Sinne vermitteltes Vergnügen bereitet« (Wes. d. Kunst II, 6). »Kunst sowohl wie Spiel sind Übungen natürlicher Kräfte, die der Mensch zu üben das Bedürfnis hat« (l. c. S. 8). Die »Theorie der Ergänzung« sieht im Spiel einen »Ersatz der Wirklichkeit«, auf einem instinctiven Bedürfnis beruhend (l. c. S. 45 ff.). Sinnesspiele sind »alle Spiele, die den Zweck haben, einem der beiden oberen Sinne angenehme Reize zuzuführen. Sie zerfallen in Hör- und Sehspiele« (l. c. S. 9. vgl. A. RIEHL, Üb. Hörspiele, Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos.). Ein wesentliches Kennzeichen des Spiels und der Kunst ist das »Wetteifern mit andern und der Stolz auf das eigene Können«(l. c. S. 15). Das Spiel ist eine niedere Stufe der Kunst (l. c. S. 28). Nicht jedes Spiel ist Kunst, aber jede Kunst ist (Illusions-)Spiel (l. c. S. 39). Die Kunst ist »ein gesteigertes und verfeinertes dem Bedürfnis des Erwachsenen angepaßtes Illusionsspiel« (ib.). – Vgl. J. J. WAGNER (Organ. d. menschl. Erk. S. 312: Spiel ist die »formale Darstellung) welche ganz ohne Interesse an der Sache sie bloß um der zu producierenden Form willen behandeln und um dieser willen selbst wieder vernichten kann«, (l. c. S. 312 f.). SCHASLER (Ästhet. 1886, II, 12). K. FISCHER (Kl. Schrift.. Üb. d. Witz S. 71 f.). A. MEINONG (Üb. Annahm. S. 42 ff.). Vgl. Ästhetik.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 416-419.
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