Wissen und Glauben

[798] Wissen und Glauben bedingen einander wechselseitig. Einerseits bedarf das Wissen (s. d.), die Erkenntnis des Glaubens (s. d.) teils als Basis (Glaube an die Außenwelt u.s.w.), teils als Ergänzung, anderseits stützt sich der (vernünftige) Glaube auf die Ergebnisse des Erkennens. Religiöser Glaube und Wissen (Wissenschaft) sind zwei Arten der Auffassung des Weltinhaltes, die oft in Gegensatz zueinander geraten, der aber dadurch auszugleichen ist, daß dem Glauben als Gebiet das Transcendente (s. d.) oder das mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu Erschöpfende zugewiesen wird (s. Glaube, Religion).

CLEMENS ALEXANDRINUS betont: oute hê gnôsis aneu pisteôs, outh' hê pistis aneu gnôseôs (Strom. II, p. 373). AUGUSTINUS lehrt, jede Erkenntnis beruhe auf einem vorangehenden Glauben: »Fides praecedat rationem« (De ver. relig. 45). Wahres Wissen und echter Glaube müssen übereinstimmen: »Si enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem« (l. c. 5, 8). SCOTUS ERIUGENA bemerkt ähnlich: »Vera auctoritas rectae rationi non obsistit, neque recta ratio verae auctoritati« (De div. nat. I, 68). »Conficitur inde, veram philosophiam esse veram religionem conversimque veram religionem esse veram philosophiam« (De praed. III, 1). Ebenso THOMAS: »Principiorum naturaliter notorum cognitio nobis divinitus est indita, quum ipse Deus sit auctor nostrae naturae. Haec ergo principia etiam divina sapientia continet. Quidquid igitur principiis huiusmodi contrarium est, est divinae sapientiae contrarium: non igitur a Deo esse potest. Ea igitur quae ex revelatione divina per fidem tenetur, non possunt naturali cognitioni esse contraria« (Contr. gent. I, 7). Das Wissen wird durch den Glauben ergänzt (Sum. th. I. 1, 1). So auch DUNS SCOTUS (In l. sent. prol. qu. 1, 6), der aber schon die Lehre von den »doppelten Wahrheiten« vorträgt, deren jede (GlaubenWissen) innerhalb ihres[798] Gebietes gilt, und die im Gegensatz zueinander stehen können (Report. Paris. IV, d. 43, qu. 3), welche Lehre von WILHELM vVON OCCAM und anderen Scholastikern weiter ausgebildet wird zu der Lehre, daß, was philosophisch wahr sei, theologisch falsch sein könne. Sie tritt ferner auf bei LUTHER, POMPONATIUS, F. BACON, nach welchem Theologie und Wissenschaft reinlich geschieden werden sollen (Nov. Organ. I, § 65). letzteres verlangt auch SPINOZA (»fidem a philosophia separare«, Tract. theol.-pol.). Gegen die Lehre von den doppelten Wahrheiten ist NICOL. TAURELLUS Den Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben betont PASCAL. »Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît pas« (vgl. Pensées sur la relig. 1669). Die Widersprüche zwischen Wissen und Glauben betont BAYLE. die Glaubenswahrheiten sind widervernünftig, desto verdienstvoller ist es. an sie zu glauben (Dict. histor.. Oeuvr. div. 1725/31). KANT endlich entfernt das Pseudowissen (auf metaphysisch-transcendentem Gebiet), »um dem Glauben Platz zu machen«, indem er zeigt, daß unsere Erkenntnismittel zwar eine gesicherte empirische Wissenschaft ermöglichen, nicht aber die Erfassung des Transcendenten, und daß alle Aussagen der Wissenschaft nur für die phänomenale Welt, für die Dinge als Erscheinungen, nicht für deren An-sich gelten, so daß der Glaube freie Hand hat (s. Gottesbeweise, Postulat).

Nach ESCHENMAYER hat der Glaube den Primat vor der Speculation. die Philosophie muß zur »Nichtphilosophie« hinausgehen (Grdz. einer christl. Philos. 1841). Nach SCHOPENHAUER sind Glauben und Wissen ganz verschiedene Dinge, »die, zu ihrem beiderseitigen Wohl, streng geschieden bleiben müssen, so daß jedes seinen Weg geht, ohne vorn andern auch nur Notiz zu nehmen« (Parerg. II, § 176). Nach WUNDT dürfen Wissen und Glauben nicht in Widerstreit miteinander geraten (Syst. d. Phil.2, S. 2 ff.. Einl. in d. Philos. S. 23 ff.). Die Notwendigkeit des Glaubens für die Vernunft und das Wissen betont u. a. W. ROSENKRANTZ (Wissensch. d. Wiss. I, 66 ff.). Nach FR. SCHULTZE sind das Reich des Wissens (der Erscheinungen) und des Glaubens (der Dinge an sich) notwendig verbunden und auch getrennt (Philos. d. Naturwissensch. II, 384 ff.). – Vgl. BAADER, Über das Verhalten des Wissens zum Glauben, 1833. J. H. FICHTE, Religion u. Philos. in ihrem gegenwärt. Verhältnisse, S.-A. 1834. J. E. ERDMANN, Über Glauben und Wissen, 1837. J. N. DISCHINGER, Philos. u. Religion, 1849. O. MARPURG, Das Wissen u. der relig. Glaube, 1869. J. FROHSCHAMMER, Das neue Wissen u. der neue Glaube, 1873. D. FR. STRAUSS, Der alte u. d. neue Glaube, 8. A., 1875. A. GEIGEL, Über Wissen u. Glauben, 1884. HUXLEY, Science and Hebrew Tradition, 1893. A. BALFOUR, The foundations of Belief (Die Grundlagen des Glaubens, 1896). H. SCHNEIDER, Durch Wissen zum Glauben, 1897. JANET, Princ. de Mét. I, 68 ff. – Vgl. Religion, Glaube.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 798-799.
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