[36] Artussage, der beliebteste und ausgebildetste Sagenkreis der höfischen Weltliteratur. Französisch sprechende anglo-normannische Dichter brachten den Stoff in England auf, wo sie ihn, von Quellen zweiten Ranges abgesehen, in einer lateinisch geschriebenen Chronik fanden, die Gottfried, Erzdiakon von Monmouth, um das Jahr 1140 niedergeschrieben hatte, und die den Titel trägt: de [36] origine et gestis rerum Britanniae; deutsch übersetzt von San Marte, Halle, 1854. Darin wird die Geschichte von 99 Herrschern des alten Britanniens erzählt, von dem Stammvater der Briten, Brutus, einem Enkel des Äneas, an, bis zu Codwallader am Ende des 7. Jahrh. Es ist ein sagenhaftes, märchenvolles Buch, dem das Bestreben zu Grunde liegt seinen Gegenstand und durch ihn sein Heimatland mit Glanz zu umgeben; indem der Geschichtschreiber seinen Stoff mit dem klassischen und biblischen Altertum verknüpft, bemüht er sich durch Zusammenstellung wunderbarer, rührender, tragischer Momente den Eindruck lückenloser Vollständigkeit und Zuverlässigkeit hervorzubringen. Bis auf Milton ist das Buch die Quelle der englischen Geschichtschreiber gewesen; sein elfter König ist Lear, dessen Töchter Gonerilla, Regan und Cordailla sind; der 69ste ist Cymbelinc, der 91ste Artus oder Arthur, der dem erobernden Sachsen im 6. Jahrhundert glücklichen Widerstand leistete. Über ihn als geschichtliche Persönlichkeit handelt Lappenberg, Geschichte Englands, I, 103 ff. Von den historisch-nationalen Zügen des Königs Artus ist jedoch in der höfischen Sage keine Spur zurückgeblieben, vielmehr wurde er zum Ideal des ritterlichsten, freigebigsten, frömmsten Königs ausgebildet; er ist der alle überstrahlende Artus, die Blume der Könige, der Stolz und Ruhm und einstige Heiland seines Landes, der mit dem Beistand des gewaltigen Zauberers Merlin über alle Feinde siegreich war, über Sachsen, Deutsche und selbst über den Kaiser der Römer, Lucius Tiberius; sein Ruhm verbreitet sich über die Erde; an Macht, Glanz und Freigebigkeit ist ihm kein König vergleichbar; er baut Kirchen, Paläste und Städte. Gastmahle, Spiele und Turniere drängen sich an seinem Hofe, der das Vorbild aller Ritter wird. Bei einem glänzenden Pfingstfeste, das er in seiner Hauptstadt Carleon feiert, huldigen ihm die 40 Könige der Erde. Sein Glanz wird nur getrübt durch die Untreue seiner Gemahlin Ginevra und den Verrat seines Neffen Modred. Der Ausbau der Artussage schliesst sich an die ihr vorausgehende Karlssage an. Während Karl mehr der fränkische Held war, wurde Artus der anglo-normannische; vorzüglich das Motiv der Minne konnte hier viel freieren Spielraum gewinnen als in den immer noch einigermassen historischen Karlsdichtungen, zumal die verbotene Minne. Von der Karlssage entlehnte die Artussage die Tafelrunde mit ihren 12 Paladinen; aus andern bretonischen Sagen flossen der Artussage neue Gestalten, Stoffe und Motive zu, Parzival, Tristan, so dass zuletzt ein weiter umfangreicher Sagenkomplex daraus sich gestaltete. Während die Gedichte der Karlssage bei den französischen Dichtern chansons de geste heissen, erhalten die Artusgedichte den Namen Roman, d.h. ein Gedicht in der romanischen Vulgärsprache gegenüber lateinischen Dichtungen. Die ersten Artusromane sind in Prosa geschrieben, die gereimten folgen auf sie. Der berühmteste und fruchtbarste französische Schriftsteller auf diesem Gebiete ist Chrétien de Troyes; seine Romane Erek, Chevalier au lion, Tristan, Lancelot de lac, Percheval. Erst in Frankreich verband sich die Graalsage (s. diese) mit der Artussage. Das älteste deutsche Gedicht der Artussage ist der nur unvollständige Tristan des Eilhard von Oberge, Dienstmann Heinrich des Löwen; dann folgt der Lanzelot des Ulrich von Zazikoven aus dem Thurgau, der durch einen 1194 für Richard Löwenherz gestellten Geisel mit der Quelle bekannt geworden war; der nächste ist Hartmann von Aue mit dem Erec und Iwein nach Chrétien de Troyes; Nachahmung des Iwein[37] und ebenfalls der Artussage angehörig ist der Wigalois des Wirnt von Gravenberg. Mit der Graalsage verbunden, erscheint die Artussage in Wolframs von Eschenbach Parziral und Titurel; das beliebteste Artusgedicht aber wurde Gottfrieds von Strassburg Tristan und Isolde, fortgesetzt von Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg. Mit dem ausgehenden Rittertum verlor sich auch die Freude an der Artussage; in einem umfangreichen und gehaltlosen Gedicht des Malers Ulrich Füterer von 1287 ist die Sage zum letztenmal behandelt worden.