Erziehung

[161] Erziehung. Nach altgerm. Rechtsanschauung stand es in der Willkür des Vaters, ob er das neugeborene Kind überhaupt aufziehen lassen wollte; es stand ihm frei, es zu töten, auszusetzen oder zu verkaufen. Doch kam dies im westlichen Deutschland seltener vor als im Norden, und schon Tacitus (Germ. 19) erwähnt dieses Rechtes nicht mehr. Bald nach der Geburt wurde das Kind auf die Erde gelegt, bis sich der Vater erklärte, ob er es leben lassen wolle oder nicht. Entschied er sich für jenes, so wurde das Kind aufgehoben, daher wahrscheinlich der Name Hebamme. Entschied er sich für das letztere, so wurde das Kind ausgesetzt; doch beschränkte sich die Aussetzung auf gewisse Stämme und auf bestimmte Verhältnisse, wie grosse Armut der Eltern, Teuerung, oder sie betraf schwächliche und krüppelhafte Kinder und zwar Mädchen häufiger als Knaben. Sobald dem Kinde nur die geringste Nahrung zu teil geworden war, ein Tropfen Milch oder Honig, so war die Aussetzung nicht mehr gestattet. Dagegen konnte das Kind noch später im Falle äusserster Not in die Sklaverei verkauft werden.

War das Kind aufgehoben, so wurde es gebadet, mit Wasser begossen und ihm dabei der Name gegeben, eine altgermanische heidnische Sitte, die ganz zu der Taufe stimmte. Gewöhnlich war es der vornehmste der anwesenden Männer, der das Wasser über das Kind goss und ihm den Namen beilegte; man wählte dazu mit Vorliebe den Namen des mütterlichen Oheims oder des Grossvaters. Viele Zeugen zu der Handlung zu versammeln, war alter Brauch. Wer den Namen gab, fügte ein Geschenk an liegender oder fahrender Habe hinzu. Ebenso pflegte man den ersten Zahn mit einer Gabe zu begrüssen.

Da nach germanischem Recht der Unmündige den Stand des Unfreien teilt, daher Knecht und Knabe, Magd und Jungfrau in der alten Sprache zusammenfallen, so wuchs das Kind des Freien zusammen mit den Kindern der Knechte auf; Tacitus Germ. 20 berichtet: »In jedem Hause wachsen die Kinder nackt und schmutzig zu jenen Gliedern und Leibern heran, die wir anstaunen. Die Mutter nährt ein jedes an ihrer eigenen Brust, und sie werden nicht[161] Mägden oder Ammen überwiesen. Herrn und Knecht kann man an keinerlei Bevorzugung in der Erziehung unterscheiden. Unter demselben Vieh, auf demselben Boden leben sie miteinander, bis das heranreifende Alter die Freigeborenen aussondert, Tapferkeit sie kenntlich macht.« Oft wurden gleichalterige unfreie Kinder den freien Kindern bei der Namengebung zum Eigentum geschenkt und blieben das ganze Leben in ihrer nächsten Umgebung. Überhaupt trug das Zusammenleben der freien und unfreien Kinder zu einer Ausgleichung der Standesverschiedenheit bei.

In den ersten Jahren lebten die Kinder beiderlei Geschlechtes unter der Obhut der Mutter; ob, was in Skandinavien häufig geschah, die Knaben früh schon in das Haus eines Freundes oder eines Verwandten und zwar besonders zum Bruder der Mutter gegeben wurden, ist durch keine Zeugnisse belegt, aber nicht unwahrscheinlich. Die Töchter wurden ausser in den Arbeiten ihres Geschlechtes auch in der Kenntnis der Runen unterrichtet; im Übrigen blieben sie in der Mundschaft des Vaters oder des geborenen Vormundes, bis sie mit der Verheiratung in die Mundschaft des Ehemannes traten; was sie äusserlich vor der Verheiratung einzig kennzeichnete, war der freie Haarwuchs, sonst bloss der Schmuck des Freien; als Braut musste sie die Locken verschneiden, und die Zöpfe wurden ihr aufgebunden. Die Knaben dagegen wurden, solange sie in der Gewalt des Vaters waren, stets von frischem geschoren.

Mit der Stellung der Kinder zu den Eltern hängt ein eigentümlicher Gebrauch früherer Jahrhunderte zusammen, dass nämlich, wenn die ganze Familie über die Strasse schritt, zuerst die Töchter, dann die Mutter, sodann der Vater und dann erst die Söhne kamen. Die Weiber gehen den Männern voran, wie sonst das Gesinde voranzugehen pflegt, um der Herrschaft den Weg zu räumen, und unter den Weibern kommen die Töchter vor der Mutter, weil sie in ihrer Dienstbarkeit zunächst dieser untergeben sind. Die Söhne aber folgen dem Vater, weil sie, gleichsam das stehende Heer des Hauses, ihn als ihren Waffenmeister und Feldherrn an der Spitze haben müssen.

Hatte der Sohn, nachdem er frühzeitig zu körperlichen Übungen angehalten worden war, zum Führen der Waffen, Reiten, Schwimmen, Jagen, hinreichende Proben seines Mutes abgelegt, so erfolgte. die feierliche Wehrhaftmachung. Öffentlich, vor dem Volke, vor Freunden und Verwandten wurde er vom Vater oder einem befreundeten Edeln mit Schild und Framea ausgerüstet und mit dem ersten ihm selbst gehörenden Schwerte wurde er als fähig bezeichnet, sich und andere zu beschützen. Die Wehrhaftmachung geschah etwa im 15. Jahre; vollkommen frei wurde der Sohn aber erst mit Antritt des 21. Jahres; dann musste er, wenn dieses nicht schon vorher geschehen war, aus der Mundschaft des Vaters austreten, sein eigener Herr werden, mochte er sich nun verheiraten und einen eigenen Hausstand gründen oder unverheiratet bei seinem Vater oder anderswo um Lohn arbeiten oder in die Schar eines Gefolgsherrn eintreten.

Die Völkerwanderung brachte in diese einfachen Zustände manche Verwirrung und anfänglich jedenfalls nichts Schöneres. Schon im 6. Jahrh. liebten es reiche Angelsachsinnen, ihre Kinder Ammen zu übergeben, eine Unsitte, die in der höfischen Zeit allgemein wurde. Für die Knaben und Mädchen kamen Zuchtmeister auf, ahd. magaczogo, magazogo, mhd. magezoge und magezogine, zuhtmeister und zuhtmeisterinne,[162] zuerst ohne Zweifel für die Kinder des Königs und der Fürsten, dann weitergreifend für die der Vornehmen und des Adels überhaupt. Kenntnis der Gesetze und des Schrifttums im Allgemeinen verlangte einen besonderen Unterricht, der naturgemäss von Geistlichen geleitet und gegeben wurde.

Dies wurde besonders durch Karl d. Gr. weiter ausgebildet. Derselbe richtete sogar für seine Töchter neben dem Unterricht im Weben und Spinnen eine Art wissenschaftlichen Unterrichts ein. Besonders sollten die Klosterschulen für den Unterricht der Söhne des Adels dienen; nach dem Vorbilde englischer Frauenklöster wurden durch englische Nonnen deutsche Frauenklöster gestiftet, besonders Bischofsheim an der Tauber, Stätten, die in der Folgezeit die gewönlichen Erziehungsstätten für reichere Mädchen wurden, und in denen nebst feineren weiblichen Arbeiten auch eine gewisse wissenschaftliche Bildung gegeben wurde; der Besitz eines geschriebenen Psalters ist im Mittelalter für die Frau Regel und zählt zur Gerade (siehe den bes. Art.).

Weniger Erfolg hatten auf die Länge Karls d. Gr. Bemühungen um wissenschaftlichen Unterricht der Knaben. Zwar waren in den Klöstern neben den für den Nachwuchs der Mönche bestimmten inneren Schulen besondere äussere Schulen für Weltgeistliche und Laien eingerichtet; die Folgezeit weist aber einen Stand der Vornehmen auf, der von gelehrter Bildung sehr wenig angenommen hat. Dagegen hat die Ausbildung des ritterlichen Standes auch eine ganz besondere konventionelle Standeserziehung geschaffen. Ziel derselben war vor allem höfische Lebensart, zuht, hövescheit, im Gegensatz zur unzuht, dörperheit, unhövescheit; sie beruhte auf einem anständigen Benehmen, auf Kenntnis der gewöhnlichen Spiele, der Musik und der Sprachen. Ausser Weltgeistlichen, Hofkaplanen besonders, bediente man sich dabei der Spielleute, die zugleich Sprachmeister waren; französische kamen nach Spanien, Italien und Deutschland; deutsche Spielleute waren in Italien, deutsche Geiger in Frankreich im 13. Jahrh. sehr beliebt. Für die Knaben war frühe Übung im Waffenspiel unerlässlich, ähnlich den Knaben der Taciteischen Zeit; sie lernten Strapazen ertragen, reiten, laufen, klettern, springen, mit dem Bogen schiessen, den Speer werfen, mit Schild, Lanze und Schwert kämpfen. Ein eigentlicher Fechtmeister hiess schirmmeister. Wenn in den Dichtungen dieser Zeit häufig das 7. Jahr als der Beginn solcher Erziehung angegeben wird, so scheint das nicht germanisch, sondern von den Römern hergebrachte Sitte gewesen zu sein. Dagegen ist es germanisches Recht, wenn der Knabe mit dem 12. Jahr an einen fremden Hof geschickt wird, um dort unter der Obhut eines befreundeten Mannes zum Ritter heranzuwachsen, er gehört dann unter die kint; er war zu seinen Jahren gekommen, er versan sich, d.h. er war zur Besinnung, zum eigenen Denken und Handeln gelangt. Die letzte Staffel vor der Ritterwürde nahm der Knappe ein, der seinem Herrn schon in dem Ernst des Lebens ein Begleiter war, und die altgermanische Wehrhaftmachung erhielt sich endlich im sog. Ritterschlag, in der swertleite. Näheres beim Artikel Rittertum.

In der Folgezeit kommen für die neuen Verhältnisse auch neue Bildungsmittel auf; für Kunst und Handwerk Lehre und Wanderschaft, für die gelehrten Stände die niedere und die hohe Schule, für den Adel das Reisen. Weinhold, Deutsche Frauen, Abschn. IV; Schulze, Höfisches Leben.[163]

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 161-164.
Lizenz:
Faksimiles:
161 | 162 | 163 | 164
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon