Pfahlbauten

[769] Pfahlbauten heissen die auf Pfählen in Seen und Sümpfen erbauten menschlichen Niederlassungen, auf die man zuerst im Winter von 1853 auf 1854 im Zürichersee aufmerksam wurde; man verdankt die erste wissenschaftliche Untersuchung derselben und den dadurch herbeigeführten Anstoss zu ähnlichen Untersuchungen in zahlreichen andern Seen der Schweiz namentlich dem Dr. Ferdinand Keller in Zürich, gest. 1881; seitdem sind ähnliche Ansiedelungen im Mecklenburgischen, in Pommern, Posen, Mähren, in den bayrischen und österreichischen Alpenseen und in den Seen Oberitaliens gefunden worden. Ähnliche Niederlassungen beschreibt auch Herodot: »Diejenigen Päonier, welche auf dem See Prasias in Makedonien auf Pfahlbauten leben, rammen bei der ersten Anlage auf Kosten der Gemeinde Pfähle in den Grund und befestigen die darüber gelegten Dielen aneinander. Eine einzige schmale Brücke führt vom Ufer her auf das Gerüst. Auf demselben hat ein jeglicher eine Hütte zur Wohnung, in der eine Fallthüre durch die Dielen abwärts in den See führt. Damit die Kinder nicht ins Wasser fallen, werden sie am Fusse mit einem Stricke angebunden. Ihre Pferde und anderes Vieh füttern sie mit Fischen, woran sie einen solchen Überfluss haben, dass sie einen Korb, den sie an einem Stricke durch die Fallthüre in den See herablassen, nach kurzer Zeit voll von Fischen heraufziehen.« Andere Schriftsteller erwähnen solcher Ansiedlungen am schwarzen Meer, in Syrien, und ebenso findet man sie noch heute bei wilden Völkern, z.B. in Neuguinea, auf den Sundainseln, in Hinterindien, am Euphrat, in Inner-Afrika, bei Indianerstämmen Südamerikas.

In den Pfahlbauten der Schweiz wurde je nach der Beschaffenheit des Seegrundes der Unterbau verschieden hergestellt. In kleinen Gewässern mit thonigem Boden schichtete man Knittel und Reisig abwechselnd mit Lehm und Kies aufeinander; meistens aber trieb man eine Anzahl zugespitzter Pfähle aus jüngern Baumstämmen so tief in den Grund, dass sie tragfähig[769] wurden, und legte auf die Köpfe den Wohnboden. Wo dieses Mittel nicht ausreichte, wurden die Pfähle mit schweren Steinen umstellt oder in wagrecht liegenden Schwellen von Eichenholz befestigt, die einen Rost bilden mussten. Die Hütten waren einstöckig, und enthielten Raum für eine Familie und den Viehstand. Für Wände und Dächer wurde Stammholz, Rinde, Reisig, Schilf oder Stroh verwendet. Die Verbindung mit dem trockenen Lande bildete einen Steg, der sich leicht zurückziehen liess. In jeder Hütte stand ein Feuerherd; zur Aufbewahrung von Lebensmitteln dienten Töpfe von schwach gebranntem Thon. Geräte zur Jagd und Fischerei, zum Schlachten der Tiere, zur Bearbeitung von Holz und Stein, Knochen und Horn oder Fellen und Geweben, sowie zur Bereitung der Speisen waren reichlich vorhanden. Augenscheinlich ernährten sich die Pfahlbaubewohner nicht bloss durch Jagd und Fischerei, sondern in immer steigendem Masse durch Viehzucht und Ackerbau. Ihre Bedürfnisse verstanden sie fast ohne Ausnahme selbst zu befriedigen; doch erwarben sie auch Einiges durch Tauschhandel, wie Metalle, Bernstein und Glas. In Schlamm und auf dem Grunde der Seen sind Reste von Haustieren, von Rindvieh, Hunden, Schweinen und Ziegen, von Gewild, von Weizen, Gerste und Hirse, ja von Brod und Brei, von Nüssen, Beeren und Obst gefunden worden; daneben Strohgeflechte und Gewebe, Schnüre und Fäden von Flachs. An Gefässen kommen Kochtöpfe, Teller, Becher und Krüge, an Werkzeugen Beile, Hämmer, Meissel, Kornquetscher, Lanzen und andere Waffen aus Stein, Nadeln und Pfeilspitzen aus Knochen vor, welche nur mit Hilfe von steinernen Geräten hergestellt werden konnten; denn die meisten schweizerischen Pfahlbauten kennen noch kein Metall. Doch scheint immerhin die Bronze schon früher verwendet worden zu sein, ohne dass es bis jetzt gelungen wäre, die Frage nach der Herkunft dieses Materials für diese Kulturstätten zu lösen. Die jüngsten Pfahlbauten sind ohne Zweifel diejenigen, in denen das Eisen zur Verwertung gelangt; immerhin ist es nicht möglich, diese Fundstätten ausschliesslich nach dem Stein-, Bronze- und Eisenmaterial zu sondern, da die genannten Stoffe fast nirgends in ganzer Reinheit, sondern gemischt vorliegen.

Über die Ornamentik auf den Fundgegenständen der Pfahlbauten drückt sich Rahn, schweizerische Kunstgeschichte, S. 26 ff., folgendermassen aus: An den ältesten Fundgegenständen aus der sogenannten Steinzeit beschränkt sich die Zierat auf ein einfaches, beinahe zufälliges Linienspiel. Die derbe, mehr an den Kampf und die Mühsale der Jagd gewöhnte Hand übt sich in losen und unsicheren Strichen, die kaum durch ihre parallele Lage einigen Zusammenhang verraten, oder es sind auch einfache Dupfen, welche regellos die Fläche bedecken. Zuletzt kommt dann noch die Kreislinie hinzu, und aus diesen drei Elementen entwickelt sich nun die ganze Ornamentik der Pfahlbauer. Die Linien werden zum Zickzack, sie verbinden sich zum aufrechten oder über Eck gestellten Quadrate, der Kreis wird mit konzentrischen Ringen gefüllt oder durch Seinesgleichen gekreuzt. Sodann erwacht das Streben nach rhythmischem Wechsel, nach der Gliederung verschiedener Motive in regelmässiger Wiederkehr. Der Zickzack wird durch Vertikallinien unterbrochen, die einzeln vorherrschend diagonal komponierten Zierbänder an Gefässen und Spangen werden durch horizontale Zwischenteile getrennt, die Kreise, leer und gefüllt, treten in ein bestimmtes Wechselverhältnis[770] unter sich, oder sie werden mit anderen Kombinationen versetzt. Die Horizontallinie wird gebrochen, zieht sich rechtwinkelig oder mit Krümmungen ein und setzt sich auf diese Weise fort; sie wird dem Ornamente ähnlich, welches die Alten nach jenem vielfach sich schlängelnden Flusse Kleinasiens als Mäander bezeichneten. Neben diesen mannigfaltigen und entsprechenden Äusserungen einer kindlich schaltenden Phantasie macht sich schon früh der Einfluss anderer Fertigkeiten auf die Ornamentik geltend. Zahlreiche Kombinationen z.B. weisen unzweideutig auf den Ursprung aus der Teppichwirkerei, dem Flecht- und Nestelwerke zurück. Doch sind diese Ornamente ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihre struktursymbolische Bedeutung auf alle möglichen Stoffe und Formen angewendet, ein Beweis, dass ein Verständnis der Formensprache fehlte, und dass es nur darauf ankam, die Phantasie durch ein anmutiges Spiel der Linien zu beschäftigen. Erst zuletzt erweitert sich das Formenwesen derart, dass die umgebende Natur, insbesondere die Pflanzenwelt zur Nachahmung auffordert. Am reichsten entfaltet sich diese Ornamentik an den Fundgegenständen des sogenannten Eisenalters, so namentlich an den bei Marin am Neuenburgersee gefundenen Schwertern. Hier sind auch mehrfache Tonfiguren, Vögel, Einhörner u. dgl. zum Vorschein gekommen, dann auch eigentümliche zangenförmige Ornamente, wie sie unter allen bisherigen Funden neu, dagegen wohl mehrfach auf ostgotischen und alemannischen Denkmälern nachgewiesen worden sind. Es ist indessen wahrscheinlicher, dass diese Schwerter schon nicht mehr als Produkte einheimischer Kunstindustrie, sondern als importierte Werke gallischer Herkunft, etwa aus den Werkstätten der Provinz Belgien zu betrachten sind.

Das Ende der Pfahlbautenkultur ist nicht minder rätselhaft wie ihr Anfang. Wahrscheinlich fand ein allmähliches und friedliches Verlassen statt, nachdem die Verhältnisse ein Wohnen auf dem trockenen Lande wünschenswerter gemacht hatten.

Gänzlich im Dunkeln liegt die ethnographische Kenntnis des Pfahlbauten-Volkes. Man weiss weder, wie weit die sogenannten Stein-, Bronze- und Eisenstationen auseinanderliegen, noch welchem Volk überhaupt diese Ansiedelungen angehören; darf man für die jüngsten derselben auf Kelten schliessen, so ist doch höchst auffallend, dass kein einziger römischer Schriftsteller ihrer erwähnt, zumal da in Oberitalien selber solche Niederlassungen nachgewiesen worden sind. Die Hauptquelle für diese Erscheinungen sind die zahlreichen, in den Mitteilungen der Züricher antiquarischen Gesellschaft erschienenen Berichte Dr. Ferdinand Kellers; die Hauptsammlung von Gegenständen ebenfalls diejenige derselben Gesellschaft in Zürich. Vgl. die Zusammenstellung in Baer und Hellwald, Der vorgeschichtliche Mensch, Leipzig. 1874. S. 210 bis 260.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 769-771.
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