Reliquien

[828] Reliquien der Heiligen als Gegenstände gläubiger Verehrung sind zur Zeit der Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte aufgekommen, anfangs unter teilweisem Widerspruch einzelner Kirchenlehrer; doch sprachen sich gerade die angesehensten Väter der Kirche, wie Chrysostomus, Hieronymus, Ambrosius und Augustinus, zu gunsten der Reliquienverehrung aus. Ohne Zweifel ahmte man damit zum teil den Kultus nach, den die Heiden mit den Gräbern ihrer Heroen zu treiben pflegten. Wie diese auf solchen Gräbern Tempel bauten, so die Christen über den Gräbern der Apostel und Märtyrer; waren keine Gräber vorhanden, so erwarb man Reliquien, wobei namentlich die römischen Katakomben unerschöpflichen Vorrat boten. Die Wallfahrten nach dem gelobten Lande brachten neue Reliquienschätze in Umlauf, Reliquien Christi und der Apostel und neu daran sich knüpfende Wunder. Es waren aber nicht bloss die Körper der Heiligen, einzelne Teile derselben oder Teilchen, Partikeln, sondern auch Dinge, die mit den Heiligen in Berührung gestanden hatten. Schon Augustin klagt, dass müssige Mönche mit den Reliquien, welche auch als Schutz- und Heilmittel dienten, Handel trieben. Schon zu Karl des Grossen Zeit kamen sehr abenteuerliche Reliquien auf; während der Kreuzzüge mehrten sie sich noch mehr; es kamen z.B. vom Leibe Christi ein Zahn, Haare, Stücke vom Nabel zum Vorschein; Einwendungen frommer Männer, auch Gottesurteile, die zur Unterscheidung echter und unechter Reliquien angeordnet wurden, fruchteten nichts. Der Dom zu Halle a. S. besass vor der Reformation 8133 Partikeln, darunter in einem Sarge 1243, und 42 gange Körper, in mehr als 200 Behältnissen, deren Vorzeigung jährlich am Sonntag nach Mariä Geburt stattfand. Die Vorzeigung geschah in einzelnen Abteilungen, entweder vor einem Altare in der Kirche, oder von Altanen oder Galerien, sog. Heiligtumsstühlen, herab an das im Freien versammelte Volk. Auf Reliquien, mhd. heiltuom oder heilectuom, wurden im Mittelalter Eide geschworen.

Von nachhaltiger Bedeutung wurde die Reliquienverehrung für die bildende Kunst und das Kunsthandwerk, welche eine unzählige Menge von Reliquienbehältern in Gold, Silber, Elfenbein, Edelsteinen, Kristall, feinen Holzarten u. dgl. schufen. Die älteste Stelle der Reliquie war eine verschlossene Vertiefung unter der Altarplatte, sepulchrum, zur Aufnahme eines bleiernen Kästchens mit der Weihungsurkunde und der Reliquie bestimmt; diese durften bei keinem Altare fehlen, da jeder Altar, im Anschlüsse an die altchristliche Abendmahlsfeier über den Gräbern der Märtyrer, das Grab eines Heiligen vorstellt. Im Verlaufe der Zeit entstanden zahlreiche besondere Formen von Reliquienbehältern, die Otte, kirchliche Kunst-Archäologie, § 38, auf folgende Klassen zurückfuhrt.

1. Reliquienbehälter in der Form eines viereckigen Kastens, Särge, Kästchen, Pulte, Bücher, Schachteln.[828] Behältnisse für einen oder für einige ganze Körper heissen Kasten, capsa, mhd. chafsa, kafs, kaps, chefsa und ähnlich; cista, Kiste, Lade, Schrein, Sarg. Nach Art antiker Särge haben sie einen dachartigen Oberteil, also die Form eines Hauses oder einer Kirche, selbst mit Seiten- oder Querschiffen, analog dem jedesmaligen Baustile. Der Kasten besteht aus Holz, mit vergoldetem Metallblech, Silber oder Kupfer überkleidet, das mit getriebenen Reliefs aus der biblischen oder heiligen Geschichte reich verziert erscheint; derart ist der Kasten mit den Gebeinen Karls des Grossen im Münster zu Aachen und der Kasten der heil. drei Könige im Kölner Dom. Der Gebrauch, solche Särge auf Bahren in den Prozessionen herumzutragen, gab Veranlassung, solche Schreine anzufertigen, welche, auf den Schultern von Klerikerfiguren ruhend, von diesen scheinbar getragen werden. Zur Aufnahme von Partikeln dienten Kästchen oder Särgchen ähnlicher Gestalt, deren noch sehr viele vorhanden sind, zum Teil aus Elfenbein oder aus Holz, welches mit Elfenbeinplatten überzogen ist. Andere Behälter haben die Form eines Setzpultes, wie sie auf Altären zum Auflegen des Messbuches gebräuchlich waren.

2. Cylindrische Behältnisse hatten die besondere Gestalt einer Büchse, eines Turmes oder eines Tabernakels, Gefässe, die ebenfalls zur Aufbewahrung der Eucharistie dienten. Das Tabernakel war ein aus einem Walde von Strebepfeilern komponiertes, vielfach durchbrochenes Reliquiarium, in dessen Sockel die Reliquie aufbewahrt wurde.

3. Taschen, im Orient am Gürtel getragen und durch Pilger und Kreuzfahrer im Abendlande verbreitet.

4. Behältnisse für bestimmte Körperteile in Form der letzteren, meist aus vergoldetem Silber. Dahin gehören Brustbilder zur Aufnahme des Schädels der Heiligen im Kopfe der Büste, darunter das Brustbild Karls d. Gr. im Aachener Dom; Arme, die Röhrknochen des Heiligen-Armes enthaltend; auch diese Form kommt in Aachen für den Arm Karls d. Gr. vor; Finger; Füsse; einzelne grössere Gebeine, Rippen, Wirbelknochen u. dgl., in Metall gefasst: Bilder, Statuetten der Heiligen zur Aufnahme der Reliquien, aus Metall getrieben oder hohl gegossen, auch aus Holz geschnitzt.

5. Behältnisse, welche durch ihre Form auf die in denselben enthaltenen Reliquien oder auf die Legende der Heiligen deuten. Derart sind Kreuze oder Kruzifixe als Behältnisse von Partikeln des wahren Kreuzes, in unzähligen Formen und Grössen erhalten. Seitdem die Kaiserin Helena Partikeln des heil. Kreuzes genommen hatte, vermehrten sich diese dergestalt, dass schon 30 Jahre nachher Cyrillus bezeugte, die ganze Welt sei mit Partikeln des Kreuzholzes erfüllt. Zu den Behältnissen, welche in Form der Attribute oder Symbole der betreffenden Heiligen verfertigt sind, gehören ein silbervergoldeter züngelnder Drache, als Attribut der heil. Margarethe, eine Fahne, mit Perlen durchstickt, für St. Moritz und St. Gregor, eine thönerne Lampe der heil. Elisabeth, ein geflügelter Löwe des Evangelisten Markus, ein silberner Phönix auf dem Scheiterhaufen, als Symbol der Unsterblichkeit, mit 16 Partikeln der heil. Jungfrauen, ein Schiff der heil. Ursula, ein Schwert als Marterwerkzeug vieler Heiligen, eine silberne Wiege mit Heiligtum von den unschuldigen Kindlein.

6. Reliquientafeln, tabulae, seien es mit Flachmalereien oder Reliefs geschmückte Tafelbilder oder grössere und kleinere Flügelschreine. Dahin zählen auch die sog. Kusstäfelchen oder Pacems, welche, seitdem der eigentliche Friedenskuss nicht mehr üblich war, den Gläubigen, besonders[829] den Geistlichen, vor der Kommunion während des Agnus Dei zum Küssen dargereicht wurden und gewöhnlich Reliquien enthielten. Sie bestehen aus Elfenbein oder Marmor, sind viereckig oder gewölbt, mit Reliefs aus der heil. Geschichte.

7. Monstranzen; hier findet sich das sichtbare Heiligtum in einem senkrecht gestellten Kristall-Cylinder, der von einem gotischen Kelchfusse getragen wird und oben mit einem Tabernakel in den mannigfaltigen Formen der gotischen Architektur gekrönt ist. Solche Gefässe sind erst seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch.

8. Allerlei Gefässe, Geräte und Geschirre aus Stein, Glas und Metall, die sonst im kirchlichen und häuslichen Gebrauche zur Aufnahme von Flüssigkeiten dienen, wie Schalen, Becken, Gläser, Becher, Kelche, Kannen, und die zum Zwecke der Reliquien-Aufbewahrung mit Deckeln versehen wurden. Auch Blashörner sind zu diesem Gebrauche verwendet worden.

9. Kleinodien der verschiedensten Art; mit ihnen wurden in den Reliquienschätzen der Dome oft Kuriosa und Raritäten aufbewahrt, die nach Umständen auch als Reliquienbehälter, oder aber sonst als Schaugegenstände oder als Erinnerung an eine Pilgerfahrt dienten. Dazu gehören seit dem 9. Jahrhundert Srausseneier, Kokosnüsse, Smaragd-Gefässe, Greifenklauen, d.h. meist mit Tierfüssen versehene Hörner, vorsündflutliche Knochen, Walfischrippen, Schildkrötenschalen, Meteorsteine, Alraunwurzeln.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 828-830.
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