[671] Reliquien werden nach dem Lateinischen Überbleibsel von wichtigen und theuern Personen der Vorzeit genannt, deren Gedächtniß durch den Anblick von ihnen zugehörig gewesenen Geräthen und andern in näherer Beziehung mit ihnen gewesenen Gegenstände oder von Theilen ihres Körpers selbst, allerdings vorzüglich lebhaft angeregt wird, und zu allen Zeiten waren den Nachkommen dergleichen Andenken lieb und werth. Vorzugsweise versteht man aber unter Reliquien die vorhandenen oder vermeintlichen Überbleibsel von Christus, den Märtyrern und andern geheiligten Personen der christlichen Kirche, und gibt ihnen daher auch den Namen Heiligthümer. So sehr nun dergleichen ehrwürdige Angedenken der allgemeinen Achtung werth sind, so wenig läßt sich die abergläubige Verehrung derselben rechtfertigen, welche bei den Christen in sehr früher Zeit aufkam und ihnen nicht nur einen ausnehmenden Werth, sondern auch schützende und heilsame, wunderthätige Wirkungen aller Art zuschrieb. Die unter dem Volke allgemein herrschende Unwissenheit gestattete der geistlichen Habsucht, aus jenem Aberglauben, indem man ihn begünstigte, eine reiche Quelle des Gewinns für Kirchen und Klöster zu machen. Vorzüglich griff derselbe seit den Kreuzzügen im 11. und 12. Jahrh. um sich, von denen zahllose und oft theuer erworbene Heiligthümer der Art mit heimgebracht wurden, die nur geistlicher Betrug dazu gestempelt hatte. Was in dieser Art den Leuten geboten werden konnte, beweisen am besten die hin und wieder ausgestellten Heiligthümer selbst. So zeigte man sonst in Jerusalem einen Finger vom heiligen Geiste, und einen Strahl von dem leitenden Sterne der h. drei Könige. Bei dem sonst in Nürnberg verwahrten Theil der deutschen Reichskleinodien befanden sich der Speer, mit welchem Christus am Kreuze durchstochen worden sein sollte, der aber auch in Rom, in Paris und im Kloster Andechs in Baiern gezeigt ward; ferner ein Dorn aus der Marterkrone und ein Stück von der Krippe Jesu. Die ganze Dornenkrone glaubte man zu Paris zu besitzen, aber auch in Stade zeigte man ein großes Stück davon, sowie andere in Wittenberg, Hanover, Bamberg, Halle in Sachsen und überhaupt an so vielen Orten, daß sie einen ansehnlichen Haufen Reisholz zusammen gebildet [671] haben würden. Windeln vom Christkindlein, Milch von der Jungfrau Maria, Schweißtropfen vom Engel Michael, Thränen Christi, Fetzen seiner Schweißtücher, Nägel von seinem Kreuze, Überbleibsel von dem Schwamme, mit dem er in seinen Leiden getränkt wurde, Glieder von Heiligen, und zwar ein und dieselben an mehren Orten, der heilige Esel (s.d.) in Verona u.s.w. wurden und werden zum Theil noch sorgfältig aufbewahrt und zur Verehrung ausgestellt. Die röm. Kirche hat diese und den Aberglauben an die wunderthätigen Kräfte der Reliquien besonders in Schutz genommen, der so tief ins Volk eingewurzelt war, daß ihn selbst die Reformation bei ihren Anhängern nicht sogleich verdrängen und z.B. nicht hindern konnte, daß Luther's Bettgestelle und Tisch in Eisleben selbst Gegenstand desselben wurde. Ein Span davon sollte vor Kopf- und Zahnschmerz schützen, und noch im dreißigjährigen Kriege sollen die Schweden davon nach und nach so viele Späne abgelöst haben, daß die alten Geräthe unter der Hand wiederholt ergänzt werden mußten. – Reliquiarium wird in katholischen Kirchen das Behältniß genannt, in welchem Reliquien verwahrt werden.