Sommer und Winter

[924] Sommer und Winter. Diejenige Naturerscheinung, welche wie keine andere zur Mythenbildung beigetragen hat, spielt noch während des ganzen Mittelalters, bald mehr mythisch, bald mehr allegorisch, eine wesentliche Rolle in Sitte und Denkart des Volkes. Am Sonntag Lätare, zu Mitfasten, wurde namentlich am Rhein ein Ringkampf zwischen Sommer und Winter aufgeführt, wobei jener in Laubwerk, dieser in Stroh und Moos gekleidet war; der Winter unterlag und wurde seiner Hülle beraubt. Die dabei versammelte mit weissen Stäben versehene Jugend sang dabei: stab aus, stab aus! (staubaus!) stecht dem Winter die Augen aus! Schon früh entwickelte sich dieser Aufzug zum ausgeführten Gespräch, in welchem in Liedform beide Streitende die Gründe zur Berechtigung ihres Daseins im wohlgeordneten Jahreslaufe darthaten. Der älteste erhaltene volksmässige Text aus dem Ende des 16. Jahrhunderts beginnt:


Sommer.

Heut ist auch ein fröhlicher Tag,

dass man den Sommer gewinnen mag;

alle ir herren mein,

der Sommer ist fein!


Winter.

So bin ich der Winter, ich gib dirs nit recht,

o lieber Sommer, du bist meinknecht!

alle ir herren mein,

der Winter ist fein!


Sommer.

So bin ich der Sommer also fein,

zu meinen zeiten da wechst der wein;

alle ir herren mein,

der Sommer ist fein! u.s.w.


Die drei letzten Strophen heissen:


Winter.

O lieber Sommer, beut mir dein hand,

wir wöllen ziehen in frembde land!

alle ir herren mein,

der Sommer ist fein!


Sommer.

Also ist unser krieg vollbracht,

gott geb euch allen ein gute nacht!

alle ir herren mein,

der Winter ist fein!


Winter.

Ir herren, ir solt mich recht verstan,

der Sommer hat das best getan;

alle ir herren mein,

der Sommer ist fein!


Man hat auch verschiedene, mehr kunstmässige Bearbeitungen des Themas, lateinische aus Karl d. Gr. Zeit, altfranzösische, mittelhochdeutsche, niederdeutsche, auch eine von Hans Sachs; in einer St. Gallischen Urkunde vom Jahr 858 sind Winter und Sommer die Namen zweier Brüder. Eine spätere Form dieses Wettstreites ist die, dass die Gewächse, welche sonst nur das bezeichnende Beiwerk herleihen, selbst und persönlich die Gegner sind; so stehen in einem englischen Lied Stechpalme und Epheu, in dem bekannten seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten deutschen Liede Buchsbaum und Felbinger (Weide) einander gegenüber. Uhlands Schriften, III, 17 ff.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 924.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon