[956] Strafverfahren. In diesem Artikel sollen als Ergänzung namentlich des Artikels Gerichtswesen einige Gerichtsaltertümer besprochen werden, wobei besonders Grimms Rechtsaltertümer Buch VI, Kap. V und VI und Walters Rechtsgeschichte als Quelle dienen.
1. Ladung. Schon früh im Mittelalter wurde das gebotene Gericht beläutet und beschreit. Die Glocke rief alle Freien und die Urteiler insbesondere zu ihrem Rechte, wie die Kirchenglocke zum Gottesdienst, die Sturmglocke gegen Feind, Mörder und Feuer aufrief. Der Gegner dagegen wurde in der ältesten Zeit ohne Einmischung des Richters gerufen; der Kläger selbst forderte seinen Schuldner, in Beisein von Zeugen, vor Gericht; der Ausdruck dafür ist ahd. manôn, nhd. mahnen. Zu dem Ende verfügte sich der Kläger, von Zeugen begleitet, zu der Wohnung des Schuldners, forderte ihn nochmals auf seine Verbindlichkeit zu erfüllen und bestimmte dem Weigernden ein Gericht. Wurde die Ladung, was später aufkam, von dem Richter oder dessen Boten vorgenommen, so hiess sie Bann; dieser geschah mündlich, oder später auch schriftlich, durch den Gerichtsboten, der unter Umständen die Ladung an die Thüre stecken oder hängen durfte. Gewaltsam konnte in der Regel kein Freier vor Gericht gebracht werden, am wenigsten nach der ersten Ladung; solcher Ladungen aber waren in den alten Volksrechten drei bis sieben vorgeschrieben. Bei den höheren Ständen mussten bis ins 15. Jahrhundert zur Ladung Ebenbürtige gebraucht werden. Über die gesetzlich gestatteten Entschuldigungsgründe siehe den Artikel êhaftiu not.
2. Hegung des Gerichtes. Die feierliche Aufstellung des Gerichtes hiess gerihte hegen, eigentlich mit einem Hag abschliessen. Es scheint, dass beim Sitze des Richters ein Schild aufgehängt wurde, vielleicht an einem in die Erde gesteckten Speer; die gewöhnlichen Gerichte wurden aber seit dem Mittelalter bloss durch Spannung der Bank und mit dem Stab gehegt; am Schlusse des Gerichtes pflegten die Bänke gestürzt (zusammengeworfen) zu werden. Erstes Geschäft des Richters ist, Stille zu gebieten, Gerichtsfrieden zu bannen, ban und frid gebieten. Bis wieweit der Umstand (die Umstehenden) dem gehegten Gericht nahen durfte, bestimmte entweder Seil und Schranken, oder besondere Verfügung. Fremde mussten sich in noch weiterer Ferne halten; Überschreitung der gesetzten Schranke wurde hart gebüsst.
3. Streit. Der Prozess wurde als ein Kampf gedacht; der Kläger greift an, der Beklagte wehrt sich; die Ladung ist eine Kriegsankündigung, die Gemeinde schaut zu und urteilt, wer unterlegen sei; Zeugen und Mitschwörende helfen auf beiden Seiten; zuweilen löst sich das ganze Verfahren in das Gottesurteil eines leiblichen Zweikampfes auf. Klage und Antwort und das übrige Verhalten vor Gericht war an genau abgemessene Ausdrücke gebunden. Der Gang der Verhandlung war ängstlich abgemessen und die Ausdrücke für das Einzelne so genau vorgezeichnet, dass die kleinste Abweichung Nachteil und Gefahr mit sich führte.
Klage ist ursprünglich das Geschrei, mit dem man seinen Ankläger beschuldigt, dass es möglichst alle hören, und die Hilfe des Richters anruft. Wirklich war es im Mittelalter Sitte, dass derjenige, der den Verbrecher auf der That ertappte oder selbst vergewaltigt worden war, das Geschrei, mhd.[956] das gerüefte, den wuof oder wuoft, erhob; diesem Waffenruf, wozu nach Umständen das Lärmhorn geblasen und die Sturmglocke geläutet wurde, war jeder Erwachsene bei Strafe zu folgen verbunden. Hatte man den Verbrecher eingefangen, so zog man zum Richter, der alsbald das Gericht versammelte. Der Leichnam, die gestohlene Sache oder andere Wahrzeichen der That mussten vor Gericht gebracht werden, was der blickende schîn oder schûb hiess; später musste wenigstens die abgelöste Hand als Leibzeichen vorgelegt werden, bis zuletzt die Besichtigung der Schöffen und das Protokoll der Sektion aufkam. Auch vor dem versammelten Gericht wurde die Klage mit Gerüfte erhoben, welches auch bei Klage auf übernächtige That eintrat. In diesem Fall konnte nach uraltem Brauch der Beklagte, umringt von Verwandten und Freunden, vor Gericht treten, doch war im Mittelalter die Zahl derselben auf dreissig höchstens mit einem Schwerte bewaffnete eingeschränkt. Besonders ausgebildet war die Klage wegen Totschlag und Wunden. Auch hier musste der Tote mitgebracht werden; ja nach einigen Rechten wurde, wenn ein Gericht nicht gleich zu haben war, die Leiche in einem Fass mit Kalk unter Siegel aufbewahrt und damit geklagt. Vor dem versammelten Gericht erhoben der Kläger, seine Verwandten und Freunde mit gezogenen Schwertern das dreimalige Geschrei, sie verschrieen den Mörder, indem sie jedesmal den Toten etwas näher brachten. Nachdem ein Urteil ihnen die Schwerter einzuthun geboten und der Schultheiss mit den Schöffen den Mord besehen hatten, rief der Schultheiss den Verklagten dreimal mit Namen auf, und wenn derselbe nicht anwesend war, wurde ein Termin über 14 Nächte gesetzt, und das Gericht gab Urlaub, den Toten zu begraben; doch wurde an einigen Orten das blutige Gewand oder die rechte Hand zurückbehalten, manchmal aber statt der letzteren eine wächserne Hand zugelassen. Blieb der Verklagte im dritten Termine aus, so wurde er in die Mordacht erklärt.
Über die Beweismittel Eid mit Eideshelfern, Gottesurteile, Zweikampf, später Tortur siehe die besondern Artikel.
4. Verurteilung. Urteil war die Antwort der Schöffen auf die ihnen vom Richter gestellte Frage. Abstimmende Urteiler pflegten wohl mit einer Formel zu schliessen; z.B.: kunne anders ieman iht gesagen, der spreche sunder mînen zorn. Gewöhnlich galt Stimmenmehrheit. Folge heisst, wenn dem Urteilenden die übrigen Schöffen oder auch die umstehenden freien Männer beipflichten: »ein unerfolgtes Urteil ist kein Urteil«. Ein gefundenes Urteil anfechten, hiess schelten oder strafen, was ursprünglich durch ein Gottesurteil geschehen konnte. Später war die gewöhnliche Wirkung des Scheltens, dass der Streit vor andere Urteiler gebracht wurde, entweder unter Vorsitz desselben Richters oder bei einem höhern Gericht. Einem Verbrecher schwere Strafe zuerkennen, hiess ihn verzählen, ahd. firzellan oder firtuoman, firtuon, firwâzan; die Schöffen hoben dabei ihre Finger auf. Eine Verurteilungsformel der Verbannung und Verfehmung lautet z.B.:
»des urteilen und ächten wir dich und nehmen dich von uns aus allen rechten und setzen dich in alles unrecht, und wir teilen deine wirtin zu einer wissenhaften witewen und deine kinder zu ehehaften waisen, deine lehen dem herren, von dem sie rühren, dein erb und eigen deinen kindern, dein leib und fleisch den tieren in den wäldern, den vögeln in den lüften, den fischen[957] in den wogen; wir erlauben dich auch männiglich allen strassen, und wo ein ieglich man frid und geleit hat, soltu keins haben und weisen dich in die vier strassen der welt.« Oder:
»der scharfrichter soll ihn führen auf freien platz, da am meisten volk ist, und mit dem schwert seinen leib in zwei stück schlagen, dass der leib das grösste und der kopf das kleinste teil bleibe; [ist einer zum Strick verurteilt:] soll ihn führen bei einen grünen baum, da soll er ihn anknüpfen mit seinem besten hals, dass der wind under und über ihn zusammenschlägt; auch soll ihn der tag und die sonne anscheinen drei tage, alsdann soll er abgelöst und begraben werden.«
Über einen zum Tod Verurteilten wurde der Stab gebrochen.
5. Hinrichtung. Strafen zu vollstrecken scheint ursprünglich nicht das Amt bestimmter Leute gewesen zu sein; wie die Gemeinde selbst das Urteil fand, musste sie auch an dessen Vollziehung Hand legen oder sie etwa dem Kläger und seinem Anhang überlassen. Immerhin besorgte schon sehr früh meistenteils der Gerichtsbote die Hinrichtung. Scherge und Fronbote waren angesehene Leute. Alte Namen derselben sind scarjo, wîzinari, wîziscalh, jüngere: Henker, Nachrichter, Scharfrichter, Stocker, Meister, Angstmann. Weil aber zu Schergen und Gerichtsdienern unfreie Leute genommen werden konnten, also die Hinrichtung in knechtische Hände zu fallen pflegte; weil es dem natürlichen Gefühl widerstrebte, dass sich ein Mensch dazu hergab und gleichsam sein Geschäft daraus machte, andere ums Leben zu bringen, so trennte sich mit der Zeit das Amt des Henkers von dem des Gerichtsboten und jenes sank in Verachtung. Jede Strafe, die der Henker vollzog, verunehrte; jede Berührung von seiner Hand beschimpfte. Man mied seinen Umgang, bei der Austeilung des Abendmahls musste er es zu allerletzt nehmen. Nur in Notfällen, wenn der Scharfrichter mangelte oder nicht allein fertig werden konnte, trat die Verbindlichkeit der Gemeinde hervor, Hilfe zu leisten, und sie musste alsdann förmlich von ihrem Richter aufgefordert werden. An einigen Orten (z.B. in Reutlingen) wurde dem untersten Schöffen, an andern (z.B. in fränkischen Gegenden) dem jüngsten Ehemanne die Hinrichtung aufgetragen. Eigentümlich war der Gebrauch, mehrere Verurteilte an einander selbst die Strafe vollstrecken zu lassen.
Buchempfehlung
»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro