Gesicht

[239] Gesicht (lat. visus) heißt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche der Sinn, durch welchen wir Vorstellungen von dem Licht der Farbe und den Umrissen beleuchteter Gegenstände in verschiedener Qualität und Intensität erlangen. Die »spezifische Energie« des Gesichtssinnes ist das Licht; denn mag das Auge durch Lichtwellen, Elektrizität oder mechanischen Druck gereizt werden, so hat es doch stets Lichtempfindungen. Die farblosen Lichtempfindungen bilden ein eindimensionales System mit den Qualitäten Schwarz, Grau, Weiß, die zugleich Intensitätsstufen oder Helligkeitsgrade darstellen. Die Farbenempfindungen Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett bilden ein System, das sich in der Form eines Kreises (Farbenkreis) anordnen läßt und in dem zwei einander gegenüberliegende Farben Gegenfarben bilden, so z.B. Gelb und Blau, Rot und Grün usw., und in dem jede einzelne Farbe ihre verschiedenen Sättigungsgrade und Helligkeitsstufen besitzt. Ergebnis der an die Sinnesempfindung sich anschließenden Bewußtseinstätigkeit ist es, daß wir die Dinge mit zwei Augen einfach und aufrecht sehen (vgl. Aufrechtsehen); ebenso werden wir ihre Größe, Entfernung und Richtung nicht unmittelbar gewahr, sondern erschließen sie erst durch Bewußtseinstätigkeiten. Auch erhebt der Geist die Lichtempfindung erst zu einer Vorstellung. Gesehen wird nur das Empfundene; Größe, Entfernung, Richtung, Gestalt, Bewegung und Zahl sind alles innerlich hinzutretende Formbestimmungen, die wir nicht empfinden. Der Hauptvorzug des Auges vor den übrigen Sinnen besteht sowohl in der gleichen Empfänglichkeit aller Fasern des Sehnerven für die verschiedenen Erregungsweisen als auch in der organischen Möglichkeit, durch Bewegung die Qualität der Empfindung abzuändern. Wundt (geb.[239] 1832) nimmt an, daß die bestimmte Form des Reizes auf die Nervensubstanz die Empfindung beeinflusse, also beim Gesicht die Einwirkung des objektiven Lichtes auf den Sehnerv. Es pflanzen sich hiernach die Molekularvorgänge fort. Die Nerven-Substanz besitzt solche Anpassungsfähigkeit, daß ihre Moleküle eine Beschaffenheit annehmen, welche sie gerade zu dieser oder jener Bewegung befähigen. Daher üben auch inadäquate Reize (z.B. ein Schlag auf das Auge) dieselbe Empfindung (Licht) aus.

Die Bedeutung des Gesichts für das Seelenleben ist sehr groß. Der vorwiegend in den Dienst des Lebens gestellte Gesichtssinn erschließt uns die Welt mit Deutlichkeit und Anschaulichkeit bis in kosmische Fernen, er ermöglicht den Grundprozeß des Geistes, das Unterscheiden; er ist ebenso verwendbar im praktischen Leben wie in der Wissenschaft und in der Kunst. Der Verlust des Gesichts trifft den Menschen am schwersten. Aber das Gesicht übt seine Tätigkeit nur, wo die Quelle des Lichts physisch gegeben ist. Im Finstern können wir nur unvollkommen oder gar nicht sehen, während das Gehör in der Dunkelheit ebenso funktioniert wie bei Tage. Ferner können wir mit den Organen unseres Körpers nicht Licht und Farben willkürlich hervorbringen, während wir Laute und Töne mit unserem Organ erzeugen können. Dem Gehör korrespondiert die menschliche Sprache, aber dem Gesicht entspricht keine optische Produktion des Menschen. – Das Auge ist vielfach (optischen) Täuschungen ausgesetzt.

In einem anderen Sinne ist Gesicht (Plural: Gesichte) s. a. Vision, s. d.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 239-240.
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