Ich

[270] Ich (ego) bezeichnet für den Sprechenden oder Denkenden die eigene Person. Unter Person aber verstehen wir die individuelle und kontinuierliche Einheit des Bewußtseins, welche durch das Leben im Wechsel der körperlichen und geistigen Zustände und Tätigkeiten, die sich in demselben abspielen, fortbesteht. So bestimmt, heißt das Ich: individuelles Ich.[270] Dieser Begriff des individuellen Ichs gründet sich nur auf das Gefühl des Zusammenhanges aller eigenen psychischen Erlebnisse. Die Realität dieses Ichs erscheint aber dem naiven Menschen, der über das erste Kindheitsstadium hinaus ist, so gewiß, daß die Formel: »so wahr ich bin« eine der stärksten Beteuerungen der Realität ist. Für den Unmündigen (d.h. das Kind, den Naturmenschen und den Ungebildeten) fällt dabei zunächst das Ich offenbar ganz mit dem Leibe zusammen, denn durch Gesicht und Getast, Gemeingefühl, Muskelempfindung und Schmerz wird es alsbald der Außenwelt entgegengestellt. Durch den Leib treten wir in Erscheinung, orientieren wir uns im Räume, treten wir mit der Welt in Wechselwirkung und vergewissern wir uns, ob wir wachen oder träumen. Er ist der Sitz unserer Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen. Das individuelle Ich ist also in erster Linie das leibliche Ich. – Allmählich aber lernt der Mensch, daß sein Ich nicht mit dem Leibe identisch sei. Denn dieser kann sehr wohl verletzt oder verstümmelt werden, ohne daß jenes sich dadurch ändert, und jenes kann an Tiefe, Umfang und Klarheit zunehmen, während der Leib verfällt. Infolgedessen sehen wir das Ich als den ideellen Kern unseres Wesens, als seelisches Ich, an, das seine lange Entwicklungsgeschichte je nach den verschiedenen Verhältnissen unseres Lebens hat. So schwer es auch ist anzugeben, was dasselbe eigentlich in einem bestimmten Moment sei, so drängt sich seine Kontinuität, Einheit und Identität jedem leicht auf; es ist zunächst die Summe aller unserer Lebenserfahrungen, die Seele selber. Die Existenz dieses empirischen Ichs spricht Cartesius (1596 bis 1650) in dem berühmten Satze aus: Cogito, ergo sum, Ich denke, also bin ich; d.h. ich bin ein Denkendes, folglich existiere ich als Subjekt des Denkens. Dieses Ich ist nichts. körperlich, sinnlich Wahrnehmbares; es erscheint selbst nicht; ja auch seine Daseins-Äußerungen treten nicht äußerlich in die Erscheinung. Dritte nehmen nur körperliche Modifikationen wahr, welche ein äußerlicher Ausdruck dessen sind, was im Innern des Ichs vorgeht. Es ist zunächst nur sich selbst bekannt, im Selbstbewußtsein gegeben. Aber aus seinen Äußerungen beim Mitmenschen schließen wir von uns aus ebenfalls für sie auf ein Ich. Freilich nimmt dieses Schließen bald auch infolge unserer eigenen Erlebnisse, der Übung und der Verständlichkeit der Äußerungen fast den Charakter der Unmittelbarkeit an. Wirklich bewußt wird jedem jedoch nur sein eigenes Ich. Die[271] Äußerungen des Ichs aber sind Empfindung, Gefühl, Sinnesperzeption, Vorstellen, Wollen und Handeln. Diese Akte treten nie unvermischt auf, sondern immer in Verbindung miteinander und sind zum Teil der Isolierung gar nicht fähig. Alle aber werden dem Ich im Bewußtsein offenbar; es ist also das Innewerden, das klare, innerliche Auffassen, Haben und Festhalten der objektiven und subjektiven Erscheinungen in ihrem Detail wie in ihrer Totalität die Grundeigenschaft des Ichs. Man könnte das Ich daher mit einem Lichte vergleichen, das sich ruhig, doch intensiv über die Gegenstände ausgießt, aber ohne einen Gegenstand sich nicht manifestieren kann. Dieses Ich gilt dabei als der Träger des Bewußtseins, nicht als das Bewußtsein selbst; auch erscheint der Inhalt des Ichs durch das Bewußtsein nicht vermehrt, sondern nur erleuchtet. – Das Ich ist zwar ein Individuelles, aber auch ein bei allen gesunden Menschen Verwandtes und gleichen Gesetzen Unterworfenes. Sein spezieller Gegenstand ist aber immer das eigene Selbst; in dieser Hinsicht heißt es Selbstbewußtsein oder reines Ich. Aber dieses Selbstbewußtsein, insofern es die Erfahrung des eigenen Ichs als Trägers des Bewußtseins zu sein vorgibt, ist eine Selbsttäuschung. Es existiert in Wahrheit nicht. Das Selbstbewußtsein besteht nur darin, daß die Lebensäußerungen des Ichs ein Gegenstand des Bewußtseins werden. Das Ich selbst – und das ist die Schranke des Selbstbewußtseins – ist uns nur durch seine Zustände und Tätigkeiten in der Erfahrung gegeben. Das Ich als Träger aller Bewußtseinsvorgänge, als Substanz oder Ursache unabhängig von seinen Zuständen, das reine Ich wird nie von uns erkannt. Wir erschließen es nur entweder als eine geistige Substanz oder als eine geistige Energie, als individuelle Seele, oder wie wir es sonst nennen, um das Ruhende in der Flucht der Erscheinungen um das Bleibende im Wechsel, um den Zusammenhang unseres individuellen Daseins zu erklären; und so gewiß uns im Bewußtsein ein Faktor des Daseins gegeben ist, der neben den Erscheinungen des materiellen Lebens ein Stück oder der Kern des Daseins ist, so gewiß ist das reine Ich doch auch nur die metaphysische Hypothese, durch die wir die innere Erfahrung abschließen, verallgemeinern und ergänzen.

So hat also das Ichbewußtsein drei Stufen, indem es als leibliches Ich, als seelisch-empirisches Ich und als seelisch-reines Ich erfaßt wird. Man kann das Ich demnach sowohl die reichste[272] als auch die ärmste Vorstellung nennen, jenes, was ihren eigenen Erfahrungsinhalt als Leib und empirisches Ich, dieses, was das reine Ich betrifft.

Die Psychologie geht jetzt, soweit sie eine induktive exakte Wissenschaft ist – das ist der methodische Fortschritt, den die Neuzeit gemacht hat –, nicht mehr von dem reinen Ich, sondern nur von Tatsachen des Bewußtseinslebens, dem empirischen Ich in allen seinen Einzelzuständen, aus. – Die Erkenntnistheorie dagegen statuiert, indem sie die Bedingungen der Erfahrung untersucht, eine synthetische Einheit des Bewußtseins, die die Bedingung der Erfahrung ist; Kant hat eine solche als Grundbedingung aller Erkenntnis in der Kr. d. r. V. geltend gemacht. – Das reine Ich fällt aber vor allem der Metaphysik zu. Es ist ein metaphysischer Begriff, eine letzte Hypothese zur Erklärung des Daseins. Es gehört wie alle Metaphysik nicht an den Anfang, sondern an das Ende der Philosophie. Wer mit dem reinen Ich in der Philosophie beginnt, wie Fichte (1762-1814) es getan hat, baut sein metaphysisches System in die Luft und schlägt andere Wege, als die Wissenschaft mit Erfolg verfolgen kann, ein, wobei dann doch die Methode den Denker bald verläßt, und er sich gewöhnlich der Subreptionen aus der Erfahrung schuldig macht. Fichte aber ist der metaphysische Ich-Philosoph, der versucht hat, diesen Begriff nach allen seinen Konsequenzen auszudenken.

Störungen in den Funktionen des Ichs sind verhängnisvoll; sie bestehen 1. in Störungen in der Wechselwirkung des Ichs mit den übrigen Vorstellungen (Unterbleiben der inneren Wahrnehmung); 2. in Störungen innerhalb der Vorstellungskreise des Ichs (Aufhebung des Selbstbewußtseins); 3. in Entwicklung eines abnormen Ichs und Unterdrückung des normalen durch jenes. Die erste Art findet sich während des Hellsehens, des Erwachens aus einer Ohnmacht, während heftiger Affekte und Beobachtung äußerer Vorgänge, auch bei künstlerischer Konzeption wie in Träumen. Die zweite Art tritt beim Übergang einer Altersstufe in die andere auf, bei habitueller Trunkenheit und fortgesetztem Opiumgenuß. Die dritte Art bildet eine Seelenkrankheit, welche mit einer Veränderung der Gemeinempfindung beginnt, sich in einer Verfälschung der Leibesvorstellung zeigt (man wähnt, einen Leib von Glas, Butter u. dgl. zu haben) und in voller Halluzination eines zweiten Ichs endet! Im Wahnsinn ist das abnorme Ich an Stelle des normalen getreten.[273]

Auf das individuelle Ich sollte der Name seiner Entstehung nach auch beschränkt bleiben. Aber da im Ich die Seele, das geistige Dasein des Einzelnen, gegeben ist, so überträgt die Philosophie den Namen des Ichs auf die Seele der Welt, auf die geistige Substanz überhaupt. Sie faßt damit den Gedanken eines universellen Ichs. Während Fichte in den ersten Stadien seines Philosophierens entschieden das individuelle Ich, in dem freilich die Form des allgemeinen Ichs liegt, die in allen anderen Ich-Individualitäten wiederkehrt, ins Auge faßte, hat er in den späteren Stadien das allgemeine und absolute Ich in den Vordergrund gestellt und so seinem Idealismus eine pantheistische Färbung gegeben. Vgl. v. Krafft-Ebing, Psychiatrie. Stuttgart 1883. Kirn, Die periodischen Psychosen. Stuttgart 1878. E. Hitzig, Ziele und Zweck der Psychiatrie, Zürich 1876. Hellpach, Die Grenzwissenschaften der Psychologie. 1902. G. Ulrich, Bewußtsein und Ichheit. Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, Bd. 124, S. 58-79.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 270-274.
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