[591] Sprache heißt im weiteren Sinne jede Mitteilung innerer Zustände eines lebenden Wesens an andere durch Ausdrucksbewegungen oder Zeichen. So gibt es eine Gebärden-, Mienen-, Augen- und Lautsprache. Insoweit haben nicht nur Menschen, sondern auch manche höher organisierte Tiere eine Sprache. Im engeren Sinne ist aber Sprache die Äußerung und Mitteilung von Gefühlen, Gedanken und Willensregungen durch artikulierte Laute, Wörter und Wortverbindungen. Eine solche[591] völlig entwickelte Lautsprache besitzt nur der Mensch, der in der Fähigkeit aktiver Apperzeption das Tier übertrifft, und bei dem die Verbindung der Stimm- und Gehörsnervenfasern innerhalb des Zentralorgans eine höher entwickelte als bei den Tieren ist. Die Lautsprache ist dem Menschen nicht angeboren, nicht also ein Geschenk Gottes, auch nicht von den Menschen erfunden, nicht also ein beabsichtigtes Werk des Menschen, sondern sie ist ein notwendiges Entwicklungsprodukt seines Geistes, das, einmal entstanden, zugleich auch das wichtigste Werkzeug der Ausbildung seiner Gedanken geworden ist. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache kann durch historische Forschung nicht zur Beantwortung gebracht werden. Sie muß vielmehr aus der Wirksamkeit derjenigen Faktoren gelöst werden, die auch jetzt noch in der lebendigen Sprache tätig sind. Die Sprache ist zunächst ein psychophysisches Gebilde. Sie entwickelt sich nur bei Menschen, die den Gehörsinn besitzen. Der Taubgeborne lernt, trotzdem ihm die physische Fähigkeit dazu nicht abgeht, nicht auf natürliche Weise sprechen, weil er nicht hören kann. Das Gehör ist also die psychische Vorbedingung der Sprachentstehung. Sprache ist die von Menschen produzierte und zugleich gehörte Summe von Lautvorgängen. Der Zusammenhang zwischen Gehör und Sprachvermögen ist ein um so wertvolleres Moment der menschlichen Organisation, als ein gleicher Parallelismus für das Gesicht nicht existiert. Licht und Farben, die wir sehen, können wir mit unsern Organen nicht hervorbringen. In der Lautsprache verbinden sich Laut und Bedeutung miteinander. Die Urschöpfung der Sprache ist also die Verbindung des Lautes mit der Bedeutung; aber zur Sprache wird diese Verbindung erst dadurch, daß sie von dem Sprechenden festgehalten und reproduziert und von anderen verstanden und gleichfalls reproduziert und so zu etwas Bleibendem und Wiederkehrendem wird. Die ersten Sprachlaute sind Reflexe, Trieb- und Ausdrucksbewegungen, Äußerungen, bei denen Gefühl und Anschauung noch innerlich verbunden sind. Die Sprache ist auf dieser Stufe pathognomischer Affektausdruck, also wesentlich interjektional (pathognomische Sprachperiode). Der Laut hat aber ferner in diesem Entwicklungspunkte eine innere Verwandtschaft zu dem, was ihn hervorgerufen hat. Die Lautbedeutung ist daher Onomatopöie, Nachahmung eines Schalls oder natürliche Wiedergabe der Empfindung eines anderen Sinnes durch eine verwandte Klangbildung.[592] Nachdem für den Sprechenden eine solche Verbindung zwischen dem Laut und der Bedeutung entstanden ist, ist ihre Reproduktion seitens des Sprechenden bei Wiederkehr gleichen Anlasses nach dem Gesetze der Assoziation verständlich; und ebenso ist für den Hörenden, der dieselbe Ursache der Verbindung des Lautes mit seiner Bedeutung miterlebt, das Verständnis und die Möglichkeit der Reproduktion gegeben. So entstehen die ursprünglichsten Bestandteile der Sprache, die Sprachwurzeln, die zunächst nur Sinneswahrnehmungen bezeichnen können. Aus sinnlicher Bedeutung werden aber dann allmählich andere verwandte Bedeutungen gebildet, und es entwickelt sich, wobei sich das ursprüngliche Verhältnis zwischen Laut und Bedeutung natürlich löst, aus dem Konkreten das Abstrakte, indem eine Vorstellung durch die andere bereits vorhandene apperzipiert wird. Diese Stufen der etymologischen Sprachentwicklung und des Sprachgebrauchs, in denen Bedeutungswandel und Lautwandel die Lebensprozesse der Sprache sind, geben ihr erst den Reichtum an Worten und Bezeichnungen, dessen sich die entwickelten Sprachen erfreuen, machen aber das Wort zu einem mehr willkürlichen Zeichen des Gedankens. Und weiter bilden einzelne Sprachen durch Zusammensetzung, Ableitung und Flexion, wobei wiederum Laut und Bedeutungswandel innig ineinandergreifen, den Ausdruck syntaktischer Beziehungen heraus, und es entsteht auf der Stufe des grammatischen Baues aus der Sprache die Möglichkeit, logische Beziehungen bequem zu denken und darzustellen. So muß die Sprache als Produkt der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts gelten, und Sprachforschung und Psychologie stehen in engster Verbindung miteinander.
Die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Sprache hat bisher nicht zu der Herrschaft einer Gemeinsprache geführt. Nur eine Reihe von Einzelsprachen und Sprachfamilien sind im Laufe der Kulturentwicklung entstanden. Der Form nach unterscheidet man unter ihnen isolierende oder einsilbige Sprachen (z.B. das Chinesische), d.h. solche, die nur Wurzeln besitzen und die Beziehungen derselben nicht zum Ausdruck bringen, agglutinierende Sprachen (z.B. die finnisch-tatarischen Sprachen), d.h. solche, die den Ausdruck für Beziehungen durch Anfügung (Nachsetzung, Vorsetzung, Hineinsetzung) der Beziehungslaute an die Wurzel besitzen, und flektierende Sprachen (z.B. das Indogermanische), d.h. solche, in denen[593] der Ausdruck der Beziehung sowohl durch Anfügungen als durch innere Veränderungen der Wurzeln erfolgt.
Die Erforschung der Sprache beginnt mit den Griechen; doch haben diese sich auf die eigene Sprache beschränkt und, indem sie wesentlich den logischen Gehalt der Sprache erfaßten, nur die Terminologie für die Redeteile geschaffen, in denen sie fälschlich auch zugleich die Satzteile sahen. Die Anfänge der griechischen Sprachforschung liegen bei den Sophisten (5. Jahrh. v. Chr.), von Bedeutung war Aristoteles (384; – 322), der Abschluß fällt den Stoikern zu. Die Römer haben die griechische Terminologie auf die lateinische Sprache angewandt und, zum Teil mit groben Mißverständnissen, ins Lateinische übersetzt. In der Neuzeit ist die griechisch-römische Terminologie auf alle europäischen Sprachen übertragen worden. Neue Prinzipien in der Sprachforschung tauchen nach den Griechen erst gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts bei den Deutschen auf. Es entsteht die philosophisch-historische Sprachwissenschaft. An der Spitze derselben steht Herders (1744 bis 1803) Abhandlung über den Ursprung der Sprache (verfaßt 1770), in der er nachwies, daß der Mensch kraft des Charakters seiner Gattung, der Merkmale suchenden Besonnenheit, unterstützt von der ihn tönend umgebenden Natur, sich notwendig Sprache und Poesie habe erschaffen müssen. Eine umfassende Sprachphilosophie schuf dann Wilhelm von Humboldt (1767-1835) auf der Grundlage historischer Kenntnis der verschiedensten Sprachen und der Kantischen Philosophie. Ihm ist die Sprache der sich offenbarende und mitteilende menschliche Geist, der Übergang vom Geist zur Erscheinung, kein Werk, sondern Energie, in der der ganze Mensch energiert, und ihm dient die Sprachwissenschaft dazu, eine Charakteristik des Menschen bezüglich seiner idealen Fähigkeit und realen Leistung zu geben. Sein Hauptwerk ist das Werk über die Kawisprache, mit seiner Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (erschienen 1836-1839). Die von Humboldt geschaffene Sprachphilosophie hat ihre Fortsetzer in Steinthal und Lazarus gefunden (vgl. Völkerpsychologie).
Während W. v. Humboldt die neuere Sprachphilosophie begründete, erforschte Jacob Grimm (1785-1863) die historische Entwicklung der germanischen Sprachen und gab in[594] seiner Deutschen Grammatik (seit 1819) das erste Beispiel einer geschichtlichen Behandlung des Sprachstoffes, und um dieselbe Zeit widmete sich Franz Bopp (1791-1867) dem Sprachstudium mit der Absicht, hierdurch in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen. Er wurde der Schöpfer der Sprachvergleichung und lieferte für den indogermanischen Sprachstamm den Nachweis der Verwandtschaft der einzelnen Sprachen und zugleich den ersten Nachweis der Entstehung grammatischer Formen. Was z.B. Deklination und Konjugation ist, hat Bopp zuerst im Wesen aufgehellt. Sein Hauptwerk, die vergleichende Grammatik (1. Aufl. 1833-1852, 2. Aufl. 1856-1861, 3. Aufl. 1868), hat den tiefsten Einfluß auf die Sprachforschung im 19. Jahrhundert ausgeübt, obwohl anfangs die klassische Philologie sich in grober Kurzsichtigkeit und Parteilichkeit gegen die Sprachvergleichung feindselig verhielt. Die von W. v. Humboldt, J. Grimm und Bopp gegebenen Gesichtspunkte der Sprachforschung sind anfangs gesondert voneinander, dann zusammenwirkend, die Linien geworden, auf denen sich alle Sprachwissenschaft fortentwickelt hat. Dominierend ist die historisch-vergleichende Behandlung der Sprachen; aber auch die philosophische Grundlegung, freilich befreit von den Fesseln einseitiger Metaphysik, ist nicht zu entbehren und bildet heute kaum noch einen Gegensatz zur historischen Richtung. Kräftig einwirkend ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den neu gewonnenen Gesichtspunkten der Forschung der phonetische hinzugetreten, der erst der natürlichen Seite der Sprache die volle Aufmerksamkeit zugewandt hat. Von diesem Standpunkte aus betrachtet man die Laute darauf hin, wie sie akustisch wirken und wie sie durch die Artikulationsorgane hervorgebracht werden, und erklärt die Veränderungen in der Sprache aus den Modifikationen der Stellung der Sprachwerkzeuge. Man faßt daher die Sprachgesetze als Naturgesetze auf. Die Phonetik hat ihre wichtigsten Vertreter in Brücke (Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute. 1856), Merkel (Physiologie der menschlichen Sprache. 1866), Rumpelt (das nat. System d. Sprachlaute. 1869), G. Michaelis der zuerst an der Berliner Universität sprachphysiologische Vorlesungen hielt (Zeitschrift für Stenographie und Orthographie. 1853 ff.), Bell (Sounds and their relations. 1882; Visible Speech. 1867), Scherer, zur Gesch. d. deutschen Sprache, Trautmann (Sprachlaute.[595] 1884-86), Sievers (Phonetik. 1876, 3. Aufl. 1885), Sweet (Handbook of Phonetics. Oxford 1877) usw. gefunden. Aber auch der phonetische Gesichtspunkt ist nur eine Seite, und zwar nicht die höchste der Sprachbehandlung und hat sich den anderen beizuordnen, nicht überzuordnen, was ihm in der Gegenwart noch nicht immer gelingen will. Vgl. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft. 1872 ff.; Whitney, die Sprachwissenschaft (übersetzt von Jolly. 1874); L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft. 1868; Bleek, über den Ursprung der Sprache. 1868; Marty, über den Ursprung der Sprache. 1876; Noiré, der Ursprung der Sprache. 1887; H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 3. Aufl., 1898; H. Oertel, Lectures on the Study of Lan-guage. 1901; K. Bruchmann, die neueste Sprachphilosophie (Preuß. Jahr., Bd. XLI, S. 409-420); Wundt, Grundriß d. Psychol. 1905 § 21, 3. S. 367 ff.
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