[754] Wahrheit, die Beschaffenheit der Gedanken u. Urtheile, vermöge deren dieselbe entweder als an sich gültig od. wegen ihres Zusammenhangs mit andern als gültig anerkannten Gedanken für nothwendig erklärt werden. Die gewöhnliche Definition der W., daß sie in der Übereinstimmung der Gedanken mit den Gegenständen bestehe, ist nur dann nicht zu eng, wenn man unter Gegenstand nicht blos den äußeren, sinnlich wahrnehmbaren, sondern überhaupt jeden gedachten Gegenstand versteht; eine Erweiterung des Begriffs, welche um so nothwendiger ist, als wir auch von den äußeren sinnlichen Gegenständen nur dadurch etwas erfahren, daß wir sie vorstellen u. überhaupt keine Erkenntniß den Kreis des Vorstelle u. Denkens überschreiten kann. Je nach der Verschiedenheit der Beziehung des Vorstellens u. Denkens auf das Vorgestellte unterscheidet man zunächst empirische (positive) u. rationale W. Die empirische W. bezieht sich auf die Feststellung u. Anerkennung des in der Erfahrung gegebenen Tatbestandes; sie ist daher so mannigfaltig, als das Gebiet der Erfahrung nach Raum u. Zeit; die historische W. (Feststellung u. Anerkennung der der Vergangenheit angehörenden Thatsachen), die physikalische W. (gegründet auf die Beobachtung der Naturerscheinungen), die psychologische (gegründet auf Beobachtung der Thatsachen der inneren Erfahrung) sind Arten derselben. Die rationale W. gründet sich auf die Abhängigkeit eines Urtheils von andern Urtheilen, also auf Schlüsse; sie besteht in der Notwendigkeit der Abfolge eines Gedankens aus andern wahren od. für wahr gehaltenen Urtheilen. Insofern für sie die logischen Gesetze der Gedankenverbindung u. Gedankenabfolge maßgebend sind, heißt sie die logische W., od., weil die logische Gesetzmäßigkeit von dem besonderen Inhalte des Gedachten unabhängig ist, die formelle. Für alle Gebiete der rationalen Erkenntniß ist diese formelle W. ein wesentliches Erforderniß; denn obwohl, wenn aus materiell nicht wahren Sätzen, z.B. aus nicht richtig beobachteten Thatsachen, der Form nach richtige Folgerungen abgeleitet werden, den letzteren die sogenannte materielle W. fehlt, so hat doch eine der Form nach falsche Folgerung aus materiell richtigen Sätzen ebenfalls keinen Anspruch auf W. Am bestimmtesten tritt dieser formelle Charakter der W. in der Mathematik hervor, welche ein System mit strengster Konsequenz aus einigen wenigen unmittelbar gewissen Sätzen (Axiomen) abgeleiteter Urtheile über die möglichen Verhältnisse der Zahl u. Raumgrößen ist, der Charakter der mathematischen (apodiktisch gewissen) W. erstreckt sich auf alle die Gebiete, auf welche, wie z.B. auf die Naturwissenschaften, die Mathematik angewendet werden kann. Darauf, daß alle rationale W. auf einem vermittelnden Denken, auf der Einsicht in die Unmöglichkeit des Gegentheils beruht u. die vermittelnde Ableitung nicht ins Unendliche rückwärts gehen kann, bezieht sich der Unterschied der mittelbaren (abgeleiteten) u. unmittelbaren W.; zu den letzteren gehören außer allem, was thatsächlich (factisch) gewiß ist, die unbeweisbaren Grundsätze u. Axiome. Insofern die Frage nach der W. über die blose Feststellung des empirischen Thatbestands, den logisch nothwendigen Zusammenhang der Gedanken u. die mathematische Bestimmtheit der Gesetze des Geschehens in Raum u. Zeit zu der Frage fortschreitet, in wiefern unsere Begriffe u. Gedankenverbindungen dem Wesen der Dinge selbst entsprechen, entsteht die Frage nach der metaphysischen W., welche, insofern sie sich auf ein die gegebene Erscheinungsart überschreitendes Gebiet bezieht, man auch die transcendentale od. transcendente, u. in Beziehung auf das Mittel, sie zu finden, die speculative nennt. In dieses Gebiet fällt auch die Frage nach der religiösen W. insofern der religiöse Glaube nicht (als lediglich positiver Glaube) bei der Anerkennung äußerlich gegebener Thatsachen stehen bleibt, sondern eine denkende Prüfung seines Inhalts verlangt. Die Entscheidung der Frage, ob u. in wiefern für den Menschen eine solche metaphysische W. erreichbar sei, ist eins der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der philosophischen Systeme (vgl. Metaphysik, Dogmatismus, Kriticismus, Skepticismus). Bon diesem gesammten [754] Gebiete der theoretischen W. ist wesentlich verschieden das der ethischen (moralischen, sittlichen) u. ästhetischen W., bei welcher es sich nicht um die theoretische Erkenntniß des Gegenstandes, sondern um eine Werthbestimmung, um eine Beurtheilung seiner sittlichen u. ästhetischen Vorzüglichkeit u. Verwerflichkeit (Güte u. Schönheit) handelt. Da sich hier die wahre Erkenntniß nicht nach dem Gegenstand u. seiner Beschaffenheit zu richten hat, sondern der Werth desselben nach einem von seiner wirklichen Beschaffenheit unabhängigen Maßstabe des Werths (einer ethischen od. ästhetischen Idee) beurtheilt wird, so nennt man die Gültigkeit der letzteren u. die Angemessenheit des Gegenstands an sie auch ideale W. In den darstellenden Künsten bezeichnet W. bald die Naturwahrheit, d.h. die Angemessenheit der Darstellung an die natürliche Eigenthümlichkeit des dargestellten Gegenstandes, bald die Kunstwahrheit (ästhetische, poetische W), d.h. ihre Angemessenheit an die dem Kunstwerke zu Grunde liegende ästhetische Idee. Als allegorische Gottheit galt bei den Alten die W. (Veritas, gr. Aletheia) als Tochter des Jupiter u. Amme des Apollo; sie wurde dargestellt mit der Sonne auf dem Kopfe, die Linke auf die Brust legend, in der Rechten einen Palmenzweig od. eine brennende Fackel. Ausdrücke, wie chemische, physiologische, astronomische, geologische, exegetische W. etc. erklären sich von selbst, insofern sie Sätze od. Erkenntnisse bezeichnen, welche in den einzelnen Gebieten der menschlichen Forschung als wichtig erkannt worden sind od. dafür gehalten werden. Die juristische W. ist derjenige Grad von Gewißheit, welcher nach den ausdrücklichen Bestimmungen positiver Gesetze erfordert wird, damit der Richter in Rechtsstreitigkeiten u. bei den Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit eine Thatsache für hinreichend beglaubigt erachten kann. So lange in diesem Sinne die Summe der für die W. einer Thatsache nach Positiver Vorschrift erforderlichen Gründe noch nicht vorhanden ist, hat der Richter dieselbe doch noch als ungewiß zu betrachten, sollte er auch persönlich völlig von der Nichtigkeit der Thatsache überzeugt sein; umgekehrt kann der Richter danach auch genöthigt sein Etwas für juristisch gewiß anzunehmen, weil die positiven Beweisregeln erfüllt sind, obschon er seinerseits noch in die Zuverlässigkeit der Beweisgründe Zweifel setzt. Das System der juristischen W. hat sich bes. im Mittelalter unter dem Einfluß der Scholastik ausgebildet. Demselben lag das an sich ehrenwerthe Streben zu Grunde durch Fixirung der Regeln über die Beweisgründe (s. Beweis) jede Willkür des Richters auszuschließen u. eine möglichste Unparteilichkeit herbeizuführen; allein in der Ausführung dieses Gedankens wurde vielfach fehlgegriffen. Das Streben der neueren Jurisprudenz ist daher darauf gerichtet dies System mehr u. mehr wieder zu beseitigen od. dasselbe wenigstens darauf zurückzuführen, daß dem Richter die Einhaltung der Beweisregeln nur als Richtschnur, nicht aber als eine unbedingte Nothwendigkeit vorgeschrieben wird. Diese Umwandelung ist im Criminalprocesse zum größten Theile bereits vollzogen; weniger ist dies bis jetzt noch auf dem Gebiete des Civilprocesses geschehenes, s.u. Beweis. Obschon der Regel nach der Richter nur dann über ein Rechtsverhältniß definitiv erkennen darf, wenn ihm die factischen Unterlagen desselben vollkommen erwiesen worden sind, so genügt es doch in Manchen Fällen ausnahmsweise, um richterliche Befehle zu veranlassen, wenn auch nur eine Wahrscheinlichkeit erbracht worden ist. Die Erbringung einer solchen Wahrscheinlichkeit von Seiten einer Partei heißt Bescheinigung. Sie reicht gewöhnlich da aus, wo nur eine provisorische Maßregel getroffen werden soll, Die z.B. bei dem Arrest. Sehr verschiedene Ansichten herrschen über die Frage, in wie weit eine Privatperson schuldig sei dem Richter gegenüber die W. zu sagen. Die Frage kann nur mit Rücksicht auf die verschiedene Stellung, in welcher die Privatpersonen dem Richter gegenüber auftreten können, beantwortet werden. Ein Angeschuldigter macht sich jedenfalls um deswillen, weil er läugnet od. dem Richter die Thatsachen nur entstellt vorträgt, keines besonderen Vergehens schuldig; es können ihn, seitdem die Folter (s.d.), sowie die Ungehorsamsstrafen (s. ebd.) abgeschafft worden sind, Heine weiteren Nachtheile treffen, als daß er dadurch möglicherweise seine Untersuchungshaft verlängert u. den Richtern den guten Eindruck benimmt, welchen ein offenes Geständniß hervorruft. Zeugen u. Sachverständige sind zur Angabe der W. durch die Pflicht genöthigt, daß sie ihre Aussagen der Regel nach beeidigen müssen u., wenn ihre Aussagen späterhin sich als unwahr herausstellen sollten, den Strafen des Meineides od. leichtsinnigen Eides unterfallen. Werden im Civilprocesse von einer Partei od. deren Anwalt dem Richter u. der Gegenpartei gegenüber entweder falsche Thatsachen wissentlich behauptet od. wahre Thatsachen wissentlich abgeläugnet, so geht die Meinung der meisten Rechtslehrer dahin, daß hierdurch ein strafbarer Betrug nicht begangen werde. Über die Einrede der W. (Exceptio veritatis) bei ehrenverletzenden Äußerungen vgl. Injurie S. 917.
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