Liebe

[337] Süße Liebe! Morgenrosen

Athmen reiner nicht den Duft,

Sanfter ihnen liebzukosen

Fächelt Zephyr nicht die Luft.

Voller nicht aus krausem Laube

Reizt den Durst die Nektartraube,[337]

Nicht so labt der Regen dürres Feld,

Als Ihr Reiz, der mich gefangen hält.


Treuer lenkt des Schiffers Nadel

Nicht gen Norden seine Fahrt,

Fester trotzet Herzensadel

Nicht gefahren jeder Art.

Sichrer fallen nicht und schwellen

Dir o Mond die Meereswellen,

Als von Schicksalstürmen ungekränkt

Nur die Liebe meinen Wandel lenkt.


Junger Klee erfreut die Lämmer,

Bienen süßer Thymian,

Durch des Buchenhains Gedämmer

Folgt ein Hirsch der Hindin Bahn.

Wo des Baches Erlen schatten,

Lockt die Nachtigall den Gatten,

Sie gehorchen einem innern Ruf,

Ich der Liebe, die Ihr Zauber schuf.


Wandelbar in stetem Kreise

Rollt der Jahreszeiten Lauf,

Aus zergangnem Wintereise

Blühn des Lenzes Glocken auf.

Was der Sommer reift und rötet,

Sinkt vom falben Herbst getödtet;

Liebe haßt den Wechsel der Natur,

Unverwelklich lacht ihr Frühling nur.


Wie ein Säuseln über Halmen

Beugt die Zeit der Cedern Stolz,[338]

Marmortempel zu zermalmen

Droht ihr Zahn gleich dürrem Holz.

Doch wenn jede Kraft ihr weichet,

Felsen sie dem Boden gleichet,

Alles unter ihrem Fußtritt schwankt,

Hat selbst ihr doch Liebe nicht gewankt.


Einzig nur aus diesem Leben

Kann des Todes linde Hand,

Blutet gleich das Herz, sie heben

In ihr beßres Vaterland.

Wo bei Seelen, die hienieden

Lebten liebten litten schieden,

Sie des Erdenglücks kaum mehr gedenkt

Und kein Jammer unsrer Welt sie kränkt.


Liebe wie die Seel' entstammet

Einem Himmel, Gottes Hauch,

Eines Schöpfers Odem flammet

In den Zwillingsschwestern auch.

Dort am Born der Seligkeiten

Huldigen, wann nun der Zeiten

Und des Todes lezter Ruf verhallt,

Reine Geister ihrer Allgewalt.

Quelle:
Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert von Karl Weinhold, Halle 1868, S. 337-339.
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