[Über Berg und Tal getragen]

[562] Über Berg und Tal getragen,

Nieder in den See getaucht,

Ist das Licht von meinen Tagen

Und in Klagen

Bebend meine Seele haucht.

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


Sonne magst nur niedersinken,

Geh nur auf, du roter Mond

Und ihr Sterne mögt nur blinken,

Hab' mein Flehen nicht belohnt

Euer Winken

Sagt mir nicht, wo Lindi wohnt.

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


Jetzt mag wohl die Lilie drehen,

Ihren Kelch zu diesem Stern

Und mit Licht und kühlem Wehen

Füllen, was ich küßte gern

Heißes Flehen!

Zieh zu ihr, zu ihr so fern!

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


War ich doch die kleine Mücke,

Die auf ihren Nacken flog

Und ein Tröpfchen meinem Glücke,

Aus den blauen Adern flog

Daß zurücke

Sie nach mir sich zürnend bog.

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


War ich doch das Regentröpfchen,

Das ihr auf die Wange fiel

Und sie schüttelte das Köpfchen[563]

Und es rann zu süßerm Ziel.

Süß Geschöpfchen!

O das war zu viel, zu viel!

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


Alles war ich, war das Sehnen,

Das sie grüßt im Abendrot,

War der Herdenglocke Tönen,

Das ihr Gruß der Heimat bot,

War die Tränen,

War die unbestimmte Not

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


O du durst'ger Strahl der Augen,

Der zum Monde trinken geht,

Selig fühlte ich dein Saugen!

Licht und Luft, die mich umweht

War das Hauchen

Ihrer Lippen im Gebet.

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


Eines weiß ich, eine Decke

Kühl und lind, auf der sie ruht,

Die von Ecke ich zu Ecke

Deckte mit der Küsse Glut. –

Nicht erschrecke

Süßes Lieb, o schlafe gut.

Gute Ruh', gute Ruh',

O süße Turtel wie marterst du!


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 562-564.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon