Der Neuner

[286] Wohlan, wohlauf du Schütze,

Komm mit uns auf den Wall,

Laß leuchten deine Blitze,

Laß klingen Büchsenknall!

Verschmähe nicht die Stütze,

Denn sichrer trifft der Ball.


Neun Jahre nun gesessen,

Bist du im Thorthurm hier;

Wie du dich hast vermessen,

Erschieße Freiheit dir!

Die Frevelthat vergessen,

Verzeihen wollen wir.
[286]

Wir wollen dich erproben,

Verwegner, blick empor!

Die Wetterfahne droben

Auf deinem finstern Thor,

Sie sei zum Ziel erhoben

Für dein geprüftes Rohr!


Verewigen sollst du drinnen

Die Jahrzahl deiner Haft;

Doch magst du dich besinnen,

Versaget dir die Kraft,

Wird dieses dein Beginnen

Mit Handabhaun bestraft!


Zehn Schüsse hast du, Einer

Nur darf ins Blaue gehn,

Wir wollen einen Neuner

Und auch neun Löcher sehn.

Nimm dich in Acht, Zigeuner,

Leicht kann der Wind sich drehn!


Lang konnt er nicht erblicken

Der Büchse trauten Glanz,

Drum ist er von Entzücken

Und Freud durchdrungen ganz.

»Ihr Herrn, soll es mißglücken,

Mein Leben in die Schanz!«
[287]

Mit unbeholfnem Knixe

Verhehlt er seine Wuth,

Dann murmelt er: die Füchse

Sind stets auf ihrer Hut.

Nimmt seine Doppelbüchse,

Und zielet fest und gut.


Wie jauchzt der Menge Schreien!

Wer hätte das gedacht!

Der neunte Schuß des treuen

Gewehres hats vollbracht.

Man drückt die Hand dem Freien,

Der steigt herab und lacht.


»Ihr Herrn, Hochehrenwerthe,

Was kam euch in den Sinn?

Wie wußtet Ihr, Verehrte,

Daß ich so ehrlich bin?

Daß sich mein Glück bewährte,

Fürwahr, ist euch Gewinn!


Seht, noch ein Schuß ist drinnen!

Nein, werdet mir nicht blaß!

Wie sollt ich mich besinnen?

– Ich rede jetzt im Spaß –

Seht, dort auch, zum Entrinnen,

Die Klepper auf der Gaß!
[288]

Auf Euern Schinderrossen –

Was meint Ihr zu dem Spaß –

War ich bereits entschlossen,

– Ich rede jetzt im Spaß,

Sobald ich fehlgeschossen,

Ihr rathet schon zu was!«


Zu Frankfurt auf dem Thore

Noch heut das Blech sich steift,

Neunfach im schrillen Chore

Der Wind ein Liedchen pfeift,

Das manchem zarten Ohre

Das Trommelfell angreift.

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 286-289.
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