Lob des Anakreons und der Sappho

[51] Als itzt Sappho verschied, ward eben der teische Dichter

Auf entspriesenden Blumen gebohren.1 Den Liebreiz desselben,

Und seine niedliche Bildung zu sehn, lies Venus ihn holen.

Schnell sprang Amor herbey, und sprach mit zornigem Muthe:

»Warum schenkte dann nicht das sonst so altkluge Schicksal

Diesem Knaben, mit der nunmehr verblichenen Sappho,

Eine Geburtssonn, und einen anmuthigen Todesabend?

Diese zween flammende Stern, ihr Götter, ehlich vereinet,

Hätten ein Feuer gezeugt, das alles angesteckt hätte;

Und ich, ohne die Welt stets mühsam durchreisen zu müssen,

Könnt itzt, ruhig, wie ihr, beym Necktar sizen, und lachen.«

Fußnoten

1 Sappho lebte ohngefähr ums Jahr der Welt 3340; Anakreon aber ums Jahr der Welt 3420.


Quelle:
Johann Nikolaus Götz: Gedichte. Stuttgart 1893, S. 51-52.
Lizenz:
Kategorien: