Lied vom Wein

[250] Nun grüß' dich Gott, du Himmelstau,

Du Ehrenpreis der Rebenau,

O Wein, du Kind der Sonnen!

Wie blinkst du mich so wohlgetan

Aus hellgeschliffnem Becher an

Als wie ein güldner Bronnen!

O komm empor an meinen Mund

Und fülle mir das Herz zur Stund'

Bis auf den Grund

Mit allen deinen Wonnen!


So wie das Licht den Edelstein

Durchströmt mit seinem klaren Schein,

Sollst du den Sinn mir klären;

Und was noch trüb in meinem Mut,

Das soll hinweg die heil'ge Glut

Der feuchten Flamme zehren.

Ich stimme dir dafür zum Zoll

Ein Lied an aller Freuden voll,

Das längst mir schwoll

Im Busen dir zu Ehren.


Ja, groß ist deiner Wunder Kraft

In Freud' und wo in Kummers Haft

Einsam ein Mann mag trinken;

Du bändigst mild den dumpfen Gram,

Läßt ihn, zu Tränen wundersam

Gelöst, im Kelch versinken.[250]

O köstlich wird der Becher da,

Wie jener, drin Kleopatra

Die Perle sah

Zergehn mit klarem Blinken.


Es schläft in dir die alte Zeit,

Die hohe Lust, das süße Leid,

Der Minne zartes Kosen;

Es schläft in dir das Lied verschämt,

Das Lied, das fromm den Sturm bezähmt,

Wenn Flut und Leben tosen.

Die Jugend hebt sich wunderbar

Aus dir empor und kränzet klar

Das Silberhaar

Mit frischen Maienrosen.


Und was der Mensch, vom Gott bewegt,

So tiefgeheim im Busen trägt,

Als sei's der Welt versunken,

Du pochst mit goldnem Finger dran,

Bis daß der Schrein sich aufgetan,

Und seine Schätze prunken.

Da klingt herauf der Weisheit Wort,

Da taucht empor der Liebe Hort,

Um fort und fort

Zu glühn in hellen Funken.


Und bist du selber nicht, o Wein,

Ein Spiegel nur und Widerschein

Vom Wandel unsrer Tage?

Gebrochen, bis zum Kern versehrt,

Wirst du zu Glut und Geist verklärt

Und selbst ein Bann der Plage.

Dein Feuer süß, das siegreich loht,

Spricht dann von Glorien nach der Not,

Und daß aus Tod

Der Jugend Flamme schlage.


So komm denn her, du Himmelstau,

Du Ehrenpreis der Rebenau,[251]

Du feurig Kind der Sonnen,

Du Weckemund zum Harfenton,

Du königlicher Sangeslohn,

Du güldner Freudenbronnen!

Empor im Becher klar und rein!

Empor, laß segnend deine Weihn

Mir angedeihn

Und alle deine Wonnen!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 250-252.
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