Als Mainz erobert war den 22. Jul. 1793

[133] Victoria! Gebrochen ist,

Die Burg, in welche sich

Mit längst gewohnter Schlangenlist,

Der Königsmörder schlich!


Die längstgewohnte Schlangenlist,

Der Dolch, der Meuchelmord,

Der dürre Palmbaum, der Klubist,

Die rothe Kapp' ist fort!


Und der so leicht Verführte hinkt,

Dem Spielzeug hinterher!

Mitleidig sehn wir ihn, er singt,

Sein Freudenlied nicht mehr!


Er singt ein Lied1, das Tigerwuth,

In Menschenseelen bringt,

Und trinkt das theure Menschenblut,

Das sein Verführer trinkt!
[134]

Verschweigs, Gesang! die Menschlichkeit

Entsetzt sich, wenn sie's hört!

Gesetzes Feindschaft, Stolz und Neid,

Hat unser Mainz zerstört!


Zerrissen achtete sie sich

Von eines Tigers Klaun,

Die gute Stadt! Wir wollen dich

Du gute! wieder baun!


Wenn wieder deutsche Redlichkeit

In deinen Häusern wohnt,

Und wieder nun Gerechtigkeit,

Auf deinem Throne thront!


Wir fochten! von des Tigers Klaun

Dich, Schwester! zu befreyn!

Wir wollten all' in sie zu haun,

Der Erste jeder seyn!


Sing's, du Gesang! der ganzen Welt:

»Der Deutsche sucht den Tod

Fürs Vaterland, ist nur ein Held

Als Mensch, und Patriot!«


Ein edler Jüngling war ein Mann!

Er flog in unsern Krieg,

War unsern Männern oft voran,

Dacht' immer hohen Sieg!


Wir haben's all' Ihm angesehn,

Wie wohl ihm, in Gefahr,

Bis in den Tod mit uns zu gehn,

Am heissen Tage war2!
[135]

Sein Auge glühte hohen Muth,

Gefahr war ihm, wie Scherz!

Wer anders Heldenthaten thut,

Dem ist nicht wohl ums Herz!


Still aber! Brüder! ins Gewehr!

Sie lebt! die Schlangenlist!

Gesang hör' auf! Und singe mehr,

Wenn sie bezwungen ist!

Fußnoten

1 Sein Ça ira.


2 Unsre Krieger nannten unter sich den 16. July 1793. den heissen Tag.


Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Gedichte, Stuttgart 1969, S. 133-136.
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