Eine Frage

[89] Sag, weisch denn selber au, du liebi Seel,

was 's Wiehnechtchindli isch, und hesch's bidenkt?

Denkwol i sag der's, und i freu mi druf.

O, 's isch en Engel usem Paradies

mit sanften Augen und mit zartem Herz.

Vom reine Himmel abe het en Gott

de Chindlene zum Trost und Sege gschickt.

Er hüetet sie am Bettli Tag und Nacht.

Er deckt sie mittem weiche Fegge zu,

und weiht er sie mit reinem Otem a,

wird's Äugli hell und 's Bäckli rund und rot.

Er treit sie uf de Hände in der Gfohr,

günnt Blüemli für sie uf der grüene Flur,

und stoht im Schnee und Rege d'Wiehnecht do,

se henkt er still im Wiehnechtchindlibaum

e schöne Früehlig in der Stuben uf,

und lächlet still, und het si süeßi Freud,

und Mutterliebi heißt si schöne Name.

Jo, liebi Seel, und gang vo Hus zu Hus,

sag »Gute Tag«, und »Bhütich Gott«, und lueg!

Der Wiehnechtchindlibaum verrotet bald,

wie alli Müetter sin im ganze Dorf.

Do hangt e Baum, nei lueg me doch und lueg!

In alle Näste nüt as Zuckerbrot.

's isch nit viel nutz. Die het e närschi Freud

an ihrem Büebli, will em alles süeß

und liebli mache, tut em, was es will.

Gib acht, gib acht, es chunnt emol e Zit,

se schlacht sie d'Händ no z'semmen überm Chopf,

und seit: »Du gottlos Chind, isch das mi Dank?«

Jo weger, Müetterli, das isch di Dank!

Jez do sieht's anderst dri ins Nochbers Hus.

Scharmanti bruni Bire, welschi Nuß

und menge roten Öpfel ab der Hurt,

e Gufebüchsli, doch will's Gott der Her[90]

ke Gufe drinn. Vom zarte Beseris

e goldig Rüetli, schlank und nagelneu!

Lueg, so ne Muetter het ihr Chindli lieb!

Lueg, so ne Muetter zieht's verständig uf,

und wird mi Bürstli meisterlos, und meint,

er seig der Her im Hus, se hebt si bherzt

der Finger uf, und förcht ihr Büebli nit,

und seit: »Weisch nit, was hinterm Spiegel steckt?«

Und's Büebli folgt, und wird e brave Chnab.

Jez göhn mer wieder witers um e Hus.

Zwor Chinder gnug, doch wo me luegt und luegt,

schwankt wit und breit ke Wiehnechtchindlibaum.

Chumm, weidli chumm, do blibe mer nit lang!

O Frau, wer het die Muetterherz so gchüelt?

Verbarmt's di nit, und goht's der nit dur d'Seel,

wie dini Chindli, wie di Fleisch und Blut

verwildern ohni Pfleg und ohni Zucht,

und hungrig bi den andre Chinde stöhn

mit ihre breite Rufe, schüch und fremd?

Und Wi und Kaffi schmeckt dir doch so gut!

Doch lueg im vierte Hus, daß Gott erbarm,

was hangt am grüene Wiehnechtchindlibaum?

Viel stachlig Laub, und näume zwische drinn

ne schrumpfig Öpfeli, ne dürri Nuß!

Sie möcht, und het's nit, nimmt ihr Chind uf d'Schoß,

und wärmt's am Buse, lueget's a und briegt;

der Engel stüürt im Chindli Tränen i.

Sel isch nit gfehlt, 's isch mehr as Marzipan

und Zuckererbsli. Gott im Himmel sieht's,

und het us mengem arme Büebli doch

e brave Ma und Vogt und Richter gmacht,

und usem Töchterli ne bravi Frau,

wenn's numme nit an Zucht und Warnig fehlt.

Quelle:
Johann Peter Hebel: Gesamtausgabe, Band 3, Karlsruhe 1972, S. 89-91.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Alemannische Gedichte
Alemannische Gedichte
Plattdeutscher Hebel: Eine Freie Uebersetzung Der Hebel'schen Alemannische Gedichte (German Edition)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon