Die kleine Kirche Jesusblödlein

[47] Ich weiß ein Gotteshäuschen,

Hart hinterm Deich erbaut.

Sein Name »Jesusblödlein«

Ist keinem leicht vertraut.


Ein Bild überm Altare

Hängt da seit alter Zeit;

Ein großer Genter Maler

Erschuf es gottbereit.


Der lautre Christusjüngling:

Sein Auge strahlt ins Feld.

So ging in erster Jugend

Der Herr wohl durch die Welt.


Sein Antlitz ohne Strenge,

Voll zarter Blödigkeit,

Voll innigster Menschenliebe,

Von keinem Arg entweiht.


Die Sünden abzubüßen,

Hat es das Volk bestellt

Bei jenem großen Meister

Für eine Fülle Geld.
[48]

Weit vor dem heutigen Deiche

Lag Stadt und Dorf im Land.

Dann kamen wilde Fluten,

Worin die Marsch verschwand.


Und Alles war verschwunden,

Im Wellenkamf zerwühlt.

Das Bild allein schwamm oben

Und ist hierher gespült.


Da haben sie von neuem,

Dicht hinterm Winterdeich,

Ein Kirchlein aufgerichtet,

Da hängt das Bild zugleich.


Von Wettern oft umdunkelt,

In Ebbe, Sturm und Flut:

Das Bildnis leuchtet ruhig

In hoher Himmelshut.


Einst auf dem Deich, im Frühling,

Sah ich hinaus aufs Meer,

Das wie der Friede feiert –

Mein Herz war wüst und schwer.
[49]

Ich wandte mich ins Kirchlein,

Weit offen klafft das Tor,

Und schaute auf den Heiland,

Stand tief erregt davor.


Und seiner Augen Klarheit

Sank mir ins Herz herein.

Ich bog ihm meine Stirne:

Du sollst mein Hüter sein.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 47-50.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gute Nacht
Gute Nacht

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon