Ein Traum

[202] Schon glaubt' ich meines Herzens Schläge

Beschwichtigt und zur Ruh gebracht,

Schon glaubt' ich, überwunden läge

Im Staub vor mir des Lebens Macht,

Verachtend blickt ich auf die Klage,

Kalt lächelnd auf versunk'nes Glück,

Und das Gedächtniß früh'rer Tage

Wich scheu vor meinem Stolz zurück.


So wähnt' ich mich geheilt, genesen,

Hinwallend auf erlauchter Spur,

Geläutert und geräumt mein Wesen

Von Schlacken irdischer Natur.[203]

Wie stieg das Blut in meine Wangen,

Wie strahlte im Triumph mein Blick!

Bewältigt hatt' ich Wunsch und Bangen,

Mein Wille nur, war mein Geschick.


So war's noch gestern. Wie nun heute?

Welch dunkler Bann hat mich berührt,

Und die ihm abgerung'ne Beute

Dem Schmerze wieder zugeführt?

O Purpur, deckend Bettlerblöße!

O Kronenreif von Glitzerschaum!

O wahngeträumte Herrschergröße –

Besiegt, zerstört hat euch ein Traum!


Ein Traum, deß finst'rer Zaubersegen

Mit Fesseln meuchlings mich umreift.

Er brach herein, wie Räuber pflegen,

Als ich die Rüstung abgestreift.

Er brach herein bei nächt'ger Stille,

Vampyrhaft saugte er mein Blut,

Als schlimme Wächter, Geist und Wille

Erschöpft vom Tageswerk geruht.
[204]

Und die in mir so lange schliefen,

Die alte Lieb', das alte Leid,

Sie stiegen aus des Grabes Tiefen

Von ihm erweckt, durch ihn befreit.

Sie sangen ihre Schmerzenlieder,

Sie winkten mit der Geisterhand,

Und aus der Asche schlugen wieder

Die Flammen auf in wildem Brand.


Da, plötzlich aus dem wirren Grund,

Rang sich ein Bild gewitterklar,

Du tratst vor mich, wie in der Stunde,

Die meines Friedens letzte war.

Wir sind uns fremd im Leben, Sterben,

Wir haben fürder nichts gemein,

Was drängst du, ganz mich zu verderben.

Dich nun in meine Träume ein?


Was nahst du mir mit fleh'ndem Munde,

Was blickt dein Aug' so schmerzenwild,

Daß aus der schon vernarbten Wunde

Auf's neu' der alte Blutstrom quillt?[205]

Was mußt du mir die Kunde bringen

Mit deinem trüben Seelengruß,

Daß all mein Kämpfen, all mein Ringen

Die eitle Müh' des Sisyphus?


Daß alle meine Geistesflüge

Ein Flattern an der Kette bloß,

Daß meine Kraft armsel'ge Lüge

In Nichts zerfließend, wesenlos,

Daß meinem innersten Gemüthe

Fortan nichts wahr und wirklich heißt,

Als nur die Lieb', in der es glühte,

Und nur der Schmerz, der es zerreißt.

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 202-206.
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