10. Morgen-Gedanken[28] 1

1721.


Glanz der Ewigkeit,

Gott und Herr der Zeit!

Sey von allen Creaturen

Für die neu erregten Spuren

Deiner Gütigkeit

Hoch gebenedeyt.


Diese finstre Nacht

Ist zum Schluß gebracht,

Und die Strahlen heitrer Sonne

Brechen zur gemeinen Wonne,

Durch die dunkle Macht

Der vergangnen Nacht.


Sehen wir dann nicht

In dem Morgen-Licht

Einen Strahl von größren Kräften,

Und durchdringendern Geschäften?

Sehen wir Dich nicht,

Zions Sonnen-Licht?


Ach! Du blinkest zwar;

Aber unser Staar,

Unsre Blindheit muß mit Schrekken

Sich vor Deinem Blitz verstekken:

Unsrer Augen Staar

Wird Dich nicht gewahr.


Eile doch herbey,

Mit der Arzeney:[28]

Räume weg die dikken Felle,

Mache unsre Augen helle,

Sonst ist unsre Noth

Aerger als der Tod.


Und weil in der Zeit

Nacht und Dunkelheit

Unser Licht so heftig schwächen,

Und so ofte unterbrechen;

Weil die Lebens-Zeit

Voller Dunkelheit:


So verkläre bald

Deines Lichts Gestalt;

Oefne die verschloßnen Siegel,

Brich den unvollkommnen Spiegel,

Und verkläre bald

Unsere Gestalt.


Doch wenn Dirs gefällt,

Daß wir auf der Welt

Länger noch mit lahmen Füssen

Unsre Strasse wandeln müssen;

O so zeig uns nur

Die gerade Spur.


Richte unser Herz

Zeitlich Himmelwerts,

Daß die Zeichen dieser Zeiten

Uns zur letzten Zeit bereiten,

Richte unsern Sinn

Auf das Ende hin.


Gibt es in der Zeit

Schein-Vergnüglichkeit:

So verleide uns ein Leben,

Das kein wahres Wohlseyn geben

Noch den letzten Tag

Uns versüssen mag.
[29]

Solls uns harte gehn,

Laß uns veste stehn,

Und so gar in schweren Tagen

Niemals über Lasten klagen;

Denn das ist der Weg,

Zu der Sternen Steg.


Kracht der Hütten Thor,

Zeuch den Geist hervor,

Laß ihn zu den frohen Schaaren

Der erlösten Geister fahren,

Daß er Deinen Tag

Immer sehen mag.


Dann ists mit dem Graus

Aller Nächte aus:

Denn ein unverrükter Schimmer

Dekt der Auserwehlten Zimmer;

Dieses Tages Pracht

Scheuchet keine Nacht.


Hilf uns dahinan

Auf der Bundes-Bahn,

Laß uns durch Dein nächtlich Leiden

Aus der Nacht der Erden scheiden;

Und durch deinen Krieg,

Jesu, gib uns Sieg.


Eilt ihr Tage fort,

Nähert euch dem Port:

Zeiten, mögt ihr doch verschleichen,

Und aus unsren Augen weichen,

Aber seyd nicht weit

In der Ewigkeit.


Offenb. 14, 13.

Fußnoten

1 Im May zu Berlin.


Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 28-30.
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